Beitragsseite

Starter Pack: Kapitel 516: Alphamelville 9: LE DEUXIEME SOUFFLE/DER ZWEITE ATEM (1966)

Mitten in den 1960ern noch ein Schwarzweißfilm, das ist schon einmal ungewöhnlich, aber noch ungewöhnlicher ist die Lauflänge für einen Krimi: 145 Minuten! Ein Krimi-Epos! Scorsese hat erzählt, DER ZWEITE ATEM wäre einer seiner Einflüsse auf den mit 209 Minuten ja noch eine Stunde längeren THE IRISHMAN von 2019.

Autor José Giovanni (Dialoge und Romanvorlage) hat sich hiernach, ab 1967, auch selbst als Regisseur etabliert. Markant sein Film IM DRECK VERRECKT (1968), ebenfalls mit Lino Ventura, am bekanntesten aber wahrscheinlich der sich gegen die damals in Frankreich noch praktizierte Todesstrafe richtende ENDSTATION SCHAFOTT (1973) mit Delon und Gabin, sowie der eher harmlose DER RAMMBOCK (1983), wieder mit Ventura.

Die einleitenden Worte des Regisseurs sind süffisant-augenzwinkernd an die Polizei gerichtet.

Das Motto des Films jedoch könnte unversöhnlicher kaum sein: “Mit seiner Geburt ist dem Menschen nur ein einziges Recht gegeben: Die Wahl seines Todes.”

Ein Gefängnisausbruch als symmetrische Anordnung. Drei Mann zwischen Winkeln und Schluchten.

Der hübscheste der drei stirbt schon hier, ganz lautlos, zu Tode gestürzt, wir haben nicht genau gesehen, wie eigentlich.

Völlig ohne Musik läuft der Vorspann über der Flucht. Es steht auch kein Musiker im Vorspann, es wird wohl keine geben.

Lino Venturas Besorgnis beim Aufspringen auf den fahrenden Zug ist nicht nur gut gespielt, sondern auch echt. Ein falscher Tritt, und er landet wirklich unter den Rädern.

Wortlos trennt sich sein Ausbrecherkamerad von ihm. Gustave “Gu” Minda (Ventura) ist allein.

Nachtclubmusik, aber nicht aus dem Off, sondern eben in einem Nachtclub. Cool Jazz. Mondäne Tänzerinnen. Wir lernen verschiedene Leute an verschiedenen Orten kennen, die erst einmal nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Der Barkellner ist Michel Constantin.

Plötzlich Geballer. Die verschiedenen Leute erschießen sich gegenseitig, Michel Constantin bleibt ungerührt und teilt ordentlich aus.

Paul Meurisse, unvergesslich als Ehemann in Clouzots DIE TEUFLISCHEN von 1955, ist Commissaire Blot. In der deutschen Synchro wird er mit “Guten Abend, Herr Polizeipräsident” angeredet, das ist wirklich zuviel der Ehre. Das kann aber auch Ironie des ihn anredenden Ganoven sein.

Die Bardot wird erwähnt. Die Bardot im Mini.

Der Commissaire monologisiert wie ein Stand-up Comedian und legt den Zeugen ihre Ausflüchte förmlich in den Mund. Starke Figur, gelangweilt von all den dreisten Lügen, die er sich im Laufe seines Lebens schon hat anhören müssen. Ich prognostiziere bereits jetzt: Der stoische Ventura wird es nicht leicht haben, in meinem Herzen mit dem sarkastischen Bullen Meurisse zu konkurrieren.

Die Reaktion des dicklichen Barmanns ist übrigens großartig synchronisiert.

Großartig auch, wie der Commissaire absichtlich die falschen Schlüsse zieht: “Seltsam – als ob sie beim Hinausgehen Richtung Straße geschossen haben.” Ich liebe diesen Typen!

Wir erfahren aus der Zeitung: Gu war mal Staatsfeind Nummer 1. Weil er den “Goldzug” überfallen hat. Reicht tatsächlich ein einziges Ding schon zum Staatsfeind Nummer 1? Braucht man dazu nicht eine Serie von Verbrechen wie Baader/Meinhof, oder in Frankreich Jacques Mesrine, den Vincent Cassel 2008 im Zweiteiler PUBLIC ENEMY NO. 1 verkörpert hat?

Paris wird immer durch denselben Winkel charakterisiert: der Arc de Triomphe von der Seite, nicht von vorn. Es ist dies der Blick von vor dem Restaurant, in dem die Schießerei stattfand. Sozusagen Paris, Seitentreppe.

Michel Constantin bekommt die Taxitür nicht sofort auf. Kein Grund für einen antinervösen Typen wie ihn, die Szene zu schmeißen.

Was ist das für ein Leopardengeräusch, als Manouche (Christine Fabréga) im Leopardenmantel die Treppe raufgeht? Wahrscheinlich die geschlossen werdende Garagentür, aber es klingt eigenartig raubtierhaft.

Da, nach fast 20 Minuten erst, ist Gu wieder.

Sehr originell, wie Gu durch die Tür schmult – aufgrund der Treppe ganz weit unten, in Fußhöhe.

Okay, jetzt kapiere ich es auch: Es ist eine Rainer-Brandt-Synchro, in der die Leute mehr reden als im Original, und mehr Witzchen gerissen werden. Vorhin beim Barmann fand ich das noch lustig, jetzt nervt es schon. Zumal dieser Film gar keine Komödie ist. Einzig der Commissaire darf hier witzig sein. Ich könnte auf Französisch umschalten (ich schaue den Film in der Arte-Mediathek), aber dann habe ich keine Untertitel, und dazu ist mein Französisch nicht sicher genug. Also muss ich die Blödelei ertragen.

Warum die Synchroniseure die Formulierung “Räuber und Schutzmann” erfinden, anstatt das auch im Deutschen viel gebräuchlichere “Räuber und Gendarm” zu verwenden, das in einem französischen Film viel besser passen würde, ist mir ein Rätsel.

Die Leopardenmantelmanouche hat auch Tigerkissen zuhause.

Knallhart werden die beiden Kleinganoven während der Fahrt abgeknallt.

Seltsamer Kamerawinkel, als das Auto genau hinter dem dicken Baum parkt. Soll dadurch der Eindruck erweckt werden, es sei gut versteckt?

Michel Constantins Rolle ist richtig groß. Das war nicht abzusehen, so, wie er als mittlerer von drei Barmännern eingeführt wurde. Sein Rollenname ist Alban.

Gangsterboss Paul Ricci wird gespielt von Raymond Pellegrin. Sein Bruder Jo Ricci wird gespielt von Marcel Bozzuffi, der seinen wohl größten Auftritt 1971 in FRENCH CONNECTION haben wird.

Die Tänzerinnen sind immer für Musik und Langbeinigkeit zuständig, balancieren dabei aber immer Zigarettenhalter in der Hand. Diese Dinger sind sowas von aus der Mode, die werden heute wohl nur noch bei 1920er-Jahre-Themenpartys verwendet.

Die Gangster hören auch beim Kartenspielen gediegenen Cool Jazz. Da ist doch ganz schön viel Musik zu hören in diesem Film. Verantworlich für diesen Jazz ist (darüber klärt mich die IMDB auf) Bernard Gerard.

Der dazukommende Spezialist Orloff wird verkörpert vom kaltäugigen Pierre Zimmer, den wir Filmbetrachter aus Robbe-Grillets L’EDEN ET APRES (1970) kennen, siehe Kapitel 212.

Interessant detaillierte Verhandlung unter Gangstern. Es geht um einen dicken Fisch, einen Lastwagen voller Platin, der gekapert werden soll.

Da ist wieder der dicke Baum, auf den Polizeifotos. Auch der Tatortfotograf hat diese Perspektive eingenommen. Als ob man sich diesem Ort nur aus einer Richtung nähern könnte. Mir kommt das wie ein Rätsel vor, ein Rebus, eine Verschlüsselung, die für etwas ganz anderes steht.

Die kühle Blonde Manouche kommt im Unterschlupf zu Besuch. Gu macht sich fein.

Interessante Beziehung: Gu rechnet mit dem Schlimmsten, gibt sich eigentlich keine Zukunft mehr, aber Manouche möchte eine Zukunft mit diesem Mann und ist bereit, darum zu kämpfen.

Die hübsche dunkelhäutige Colette nimmt die hübsche dunkelhäutige Pianistin in Melvilles nächstem Film LE SAMOURAI/DER EISKALTE ENGEL (1967) vorweg. Es ist aber nicht dieselbe Schauspielerin, Cathy Rosier war in LE SAMOURAI Debütantin.

Schön: “Zwei kleine Würstchen, und werden umgelegt wie die Großen”. Mein Commissaire mal wieder.

Okay, Gu hat nicht nur den “Goldzug” auf dem Kerbholz, sondern zum Beispiel auch den Mord an “Francis dem Krummbeinigen”. Da kommt dann doch einiges zusammen für eine Nummer 1 in den Charts.

Commissaire Blot heizt die Gangsterfehde absichtlich an, durch geschickt gestreute Hochrechnungen. Ihm ist es nur recht, wenn alle aus der Deckung kommen, um sich gegenseitig zu eliminieren.

Die Synchro wechselt mitten im Gespräch zwischen Blot und Luc die Stimmen, es ist offensichtlich eine restaurierte Fassung, sehr schön. In diesen Passagen sind auch keine Witzchen zu befürchten.

Mit sich selbst zufrieden geht Blot die Straße entlang, bleibt kurz stehen und sieht sich weiße Hemden in einem Schaufenster an. Ich kann nicht anders als an den Melville-Filmtitel DER TEUFEL MIT DER WEISSEN WESTE zu denken, aber auch diese kleine Szene kommt mir wie ein Rebus vor. Baum… Hemden … Vielleicht ergeben die Anfangsbuchstaben dieser Worte (auf Französisch natürlich) am Ende ein Lösungswort? Ach, in heutigen Filmen werden solche Szenen, die nicht wichtig sind und nirgendwo hinführen, immer weggeschnitten, “because of timing”, sagt man dann. Ich find’s schade. Ich finde die Szenen, die nirgendwo hinführen, in einem ansonsten plot-orientierten Film (der darf natürlich nicht nur eine Aneinanderreihung von Beliebigkeiten sein) am Allerinteressantesten.

Gus Rache an Jo Ricci in Riccis Bar ist fast wie ein Western inszeniert, wie der Gunfight am O.K. Corral. Wir sehen Gu lange nervös draußen herumfahren/”-reiten”. Die Polizisten sind bereits in Stellung, haben einen Hinterhalt gelegt, mit Schießbefehl. Doch Gu blast das Unternehmen in letzter Sekunde ab. Man hat das kommen sehen, man sah es an Gus Gesicht, und es ist ja nach 52 Minuten auch noch zu früh für einen Showdown-Shootout. Michael Mann hat das, glaube ich, in HEAT (1995) erfunden, die ganz große Schießerei in die Mitte zu legen, und die Schießerei gegen Ende dann eher kleiner und intimer zu machen.

Schön, wie Gu uneitel auf die Frage, ob er etwas (Verdächtiges) gesehen hat, zugibt: “Nein, mir ist schlecht geworden.”

Wo hat Melville eigentlich diese seitlichen Wischblenden her? Sie entsprechen japanischen Schiebetüren, und werden deshalb auch oft in japanischen Filmen verwendet.  Natürlich hat Melville viele japanische Filme gesehen, sonst hätte er keinen eigenen namens LE SAMOURAI gedreht.

Da ist der Arc de Triomphe wieder, links im Bild, fast verdeckt von Bäumen, diesmal frontal. Fast ein Suchbild. Rebusse und Suchbild…

Blot kommt hinter einem Baum hervor. Spult man diese Einstellung zurück, kann man ihn die ganze Zeit schon dort lauern sehen, aber niemandem wäre das aufgefallen, auch mir nicht, der ich hinten vom Triumphbogen abgelenkt war. Und wieder ein Baum.

Guter Dialog: Gu soll sich, um unerkannt nach Marseille zu gelangen, in einem Zirkuswagen als Fakir verkleiden, er findet das lächerlich. “Es ist alles überwacht.” “Na und, was ist daran so Besonderes? Was glaubst du, wie’s beim Ausbruch war?”

Michel Constantin darf lächeln. Sieht man selten, und ist ganz bezaubernd inszeniert, dieses kleine Lächeln.

Gu hat sich verkleidet, wir sehen noch nicht, wie.

Jetzt sehen wir es: Bärtchen + Brille + Hut + Mantel + Aktentasche = Bürohengst.

Er schlägt sich mit dem ÖPNV durch. Das ist wie eine aufreibende Odyssee inszeniert, dabei ist es Alltag für so viele Menschen, auch für mich. Aber nun gut, er muss ständig eine Entdeckung fürchten, das belastet natürlich nervlich. Hitchcock hätte es sich nicht nehmen lassen, ihm eine alte Dame gegenüberzusetzen, die ihn argwöhnisch anstarrt, weil sie jeden argwöhnisch anstarrt.

Zufälligerweise hat nun Orloff, der ja mit Gus Feindesbande, den Riccis, ein großes Ding plant, aber nicht richtig zu diesen gehört, einen gemeinsamen Bekannten mit Gu, und hilft Gu auch zu einem Ausweis. Das wird noch vertrackt.

Über Orloff kommt Gu an das Platinlaster-Ding der Riccis ran. Er will mitmachen, weil nicht sein Gegner Jo Ricci, sondern nur dessen Bruder Paul dahintersteckt, und weil es ihm 20 Millionen (!) einbringen kann. Ganz nebenbei erfahren wir, dass Gus Mitausbrecher von der Polizei in die Enge getrieben wurde und umgekommen ist. Gu ist nun also der einzige Überlebende von den drei Ausbrechern.

Ich habe vorhin Michael Mann erwähnt, mit der großen Schießerei in der Mitte. Jean-Pierre Melville lässt nun das große Ding um den Platinlaster genau in der Mitte des Films steigen…

Der Plan wird ausführlich erläutert und diskutiert. Diese Szene war “wegen Timing” geschnitten worden und ist neu synchronisiert. Ich finde es sehr schade, sowas zu schneiden, den es erhöht die Spannung: Wie wird sich die reale Durchführung vom sauberen Plan unterscheiden?

Was mich ein bisschen irritiert bei dieser Bande, ist: Sie haben alles gut geplant, aber sie haben diesen jungen Hitzkopf Antoine (Denis Manuel) dabei, der sich auch schon im Vorfeld kaum beherrschen kann. So jemand ist doch eine wandelnde Gefährdung, warum sortiert man den nicht rechtzeitig aus und sucht sich jemanden mit guten Nerven? Es ist aber natürlich eine Filmkonvention. Die Zuschauer identifizieren die Sollbruchstelle und sagen hinterher: “Wusste ich doch, dass es wegen dem schiefgeht.” Das ist mir manchmal zu einfach. Wirklich brilliant fände ich: Der Nervöse wächst im Ernstfall über sich selbst hinaus und bewährt sich, und einer der “alten Hasen” dagegen macht sich in die Hosen. Übrigens traue ich Melville eine solche Differenziertheit durchaus zu. (Um noch ein letztes Mal auf HEAT zurückzukommen: Meine Lieblingsfigur dort war Waingro, der unberechenbare Querschläger, genau so eine Sollbruchstelle, aber außergewöhnlich intensiv verkörpert von Kevin Gage.)

Jetzt gibt es auch – ein Bisschen zumindest – Filmmusik.

Woah, was für ein toller Blick über die Landschaft, ideal für einen Heckenschützenhinterhalt. Je weiter sie nach links gehen, desto spektakulärer wird der Ausblick, ganz links stehen sie über einem Wolkenmeer. Ganz großes Kino!

Gu ist nervös und hat schweißfeuchte Hände. Ich ahnte es. Auch er ist eine schwaches Glied in der Kette. Fein, dass Lino Ventura das mitmacht und nicht darauf besteht, der harte Kerl zu sein. John Wayne hat man nie feuchthändig gesehen, selbst in seinem zerbrechlichen allerletzten Film THE SHOOTIST (1976) nicht. Ganz sicher bin ich mir da aber nicht, es ist lange her, dass ich den zuletzt geschaut habe. Mit THE SHOOTIST werde ich ja meine Western-Serie abschließen, da kommen wir also noch hin, es wird aber wahrscheinlich noch tausend Kapitel dauern.

Schön die Idee mit den Ameisen, die auch gerade emsig ihren kleinen Plänen nachgehen.

Die Nahaufnahme des vorderen Motorradpolizisten funktioniert technisch nicht wirklich, sie wackelt einfach viel zu sehr. Es wird besser nach dem Zurückzoomen. Beim hinteren Motorradpolizisten ist auch die Nahaufnahme besser, weil aus dem wohl ruhigeren Lastwagen gefilmt.

Der Doppelmord an den Polizisten sieht seltsam aus, weil diese auf die Schüsse gar nicht zu reagieren scheinen. Als seien es fahrende Puppen. Ich frage mich auch wirklich, warum die Bande nicht zuerst auf den hinteren Polizisten schießt. Das würde im Konvoi erst einmal noch unbemerkt bleiben. Den vorderen zuerst zu erschießen gibt doch dem Lastwagenfahrer mehr Zeit zu reagieren, anzuhalten, zu wenden, sonstwas zu tun.

Der Junge versagt aber nicht. Und auch Gu nicht, der kassiert sogar noch einen Zeugen ein. Hinterher loben sie sich gegenseitig. Das Zerwürfnis kann allerdings immer noch folgen, der Zaster ist noch nicht verteilt.

Wieder so ein merkwürdiges Geräusch, diesmal das schrille Klingeln auf dem Provinzbahnhof, das überhaupt nicht aufgeklärt wird. Ich dachte, da herrscht schon Alarm oder sowas.

In der neuen Synchro heißt “Francis der Krummbeinige” plötzlich “Francis Le Brincal” oder “Brencal”. Hätte man drauf achten können. Ein echter Widerspruch ist es aber nicht, mal den Originalnamen zu benutzen und mal die Übersetzung.

Mich erinnern Paul Meurisses (Commissaire Blot) Kopfbewegungen beim Monologisieren manchmal an die Augsburger Puppenkiste. Er wackelt auch so seitlich ins Leere schauend mit dem Kopf, sehr einzigartig, außer Marionetten macht das eigentlich niemand. Fehlt nur noch, dass er so abwechselnd die Arme hebt und beim Gehen die Knie hochnimmt.

Seltsam, dass nun schon zum zweiten Mal in diesem Film, wenn auch in gänzlich anderem Zusammenhang, das Wort “Fakir” erwähnt wird. Kommt sofort auf meine Rebus-Liste. Der Baum. Weiße Hemden. Fakir. Also arbre, chemises blanches, fakir. Bislang A, C, B, F. Fast der Anfang des Alphabets, aber lückenhaft und durcheinander.

Jetzt vergeht viel Zeit. Mit Nichtstun. Und dann, ganz plötzlich, wird Gu entführt. Und zwar von komplett neuen Leuten, die für “Nevada, den Engel” arbeiten. Ich staune: Da taucht nach über hundert Minuten einfach mal eben eine neue Fraktion auf, die sich um den Platinraub betrogen sieht! Der Verhandlungsführer dieser neuen Fraktion ist ein junger Typ, der George Raft sehr ähnlich sieht. Jean Négroni heißt der Darsteller. Seine war übrigens die Erzählerstimme in einem der berühmtesten Kurzfilme aller Zeiten, LA JETEE/AM RANDE DES ROLLFELDS (1962) von Chris Marker, dem Vorbild von Terry Gilliams TWELVE MONKEYS (1995).

So, und jetzt bin auch ich komplett reingelegt worden. Von wegen neue Fraktion! Das waren Männer von Commissaire Blot, die Gu dadurch unter Druck und zum Plaudern gebracht, und alles auf Tonband aufgenommen haben! Das habe ich überhaupt nicht kommen sehen, ich habe wirklich an weitere Gangster geglaubt, auch, weil deren Argumentation plausibel war. Und weil der Typ halt wie George Raft aussah. Chapeau Blot, Chapeau Melville!

Verblüfft bin ich dennoch, dass die Polizei wusste, wo Gu sich aufhält. Bislang dachte ich die ganze Zeit, sie suchen ihn. Stattdessen haben sie ihn und benutzen ihn, um die ganze Bande auszuhebeln. Genau dies wird aber als nächstes erklärt: Ein Gefängnisbeamter auf Urlaub hat Gu auf der Straße erkannt und sofort die Polizei verständigt. Der für uns Zuschauer nicht zu sehende Kommissar Zufall also. Und Blot, der schlaue Hund, macht dann nicht einfach einen Zugriff, wie es ein deutscher Polizeibeamter machen würde, sondern entwickelt einen Plan, um die ganze Bande hoppsnehmen zu können.

Gu steht jetzt plötzlich superdämlich da: Als Verräter an seinen “Kollegen”, und dann auch noch fest in den Händen der Polizei und Zielscheibe ihres Spotts. Man knirscht geradezu mit ihm mit den Zähnen.

Interessanter Schnitt. “Gebt ihm mal was zu trinken, er hat ganz trockene Lippen.” Schnitt. Paul ist mit Wasser bekleckert und erschöpft. Wasserfolter. Wie in CARTOUCHE (1962), siehe Kapitel 4.

Versucht Gu sich bei seinem scheiternden Fluchtversuch selbst den Schädel an einem Eisenschrank einzurennen? Wahrscheinlich.

Gu ist also erst einmal aus dem Spiel. Wir gehen elegant über zu Orloff. Der trifft sich erst mit Manouche, dann mit Jo Ricci. Ausführlich sehen wir, wie er eine Wohnung präpariert, sodass er mit erhobenen Händen über seinem Kopf eine Waffe greifen kann.

Der alte Schuhputzer ist kein Filmstatist, das ist ein Original.

Antoine ist nicht dumm, er checkt die Wohnung nach versteckten Waffen. Das sind Szenen, deren Ausführlichkeit man heutzutage so nur noch in Fernsehserien zu sehen bekommt. BREAKING BAD ist (zu recht) hochgerühmt für dieses ganz eigene Timing, das in einem Krimi doch immer hochspannend ist. Es ist nicht spannend, einem Schriftsteller beim Auf-und-ab-Gehen in der Wohnung zuzusehen. Aber Leuten, die sich zu einer Konfrontation verabredet haben? Immer.

Cool: Antoine glaube Orloff überlistet zu haben, doch Orloff hat noch ein Ass im Ärmel. Die von ihm platzierte Kanone war wohl nur ein Trick.

Da liegt Gu im Krankenhausbett. Ein Häufchen Elend, durch Verbände zusammengehalten.

Die Krankenschwester ist das genaue Gegenteil vom Schuhputzer. Nein, nicht nur jung und schön, sondern sie ist keine Krankenschwester, und ich nehme ihr sogar nicht mal in der Rolle ab, dass sie eine Krankenschwester ist, denn sie geht und sieht aus wie ein Model, und agiert wie ein Pornosternchen, das für eine halbe Minute Krankenschwester spielen soll, bevor der Sex endlich losgeht.

Gu wäre nicht Gu, wenn er nicht genau diese eine halbe Minute, bevor der Sex endlich losgeht, zum Ausbruch nutzen würde. Und ich komme mir mehr und mehr wie ein Begriffsstutziger vor: Sein Zerschneiden der Hände und Anrennen gegen den Stahlschrank sollten bewirken, dass er in eine Krankenstation verlegt wird. Von dort aus kann man nämlich leichter türmen als aus der U-Haftzelle.

Ich finde interessant, dass Gu eher auf den örtlichen Inspektor Fardiano wütend ist als auf Blot, der doch die Fäden gezogen hat. Gu scheint Blot zu respektieren, Fardiano ist für ihn nur ein opportunistischer Wadenbeißer und Absahner. Und Folterer.

Gu kidnappt nun Fardiano und zwingt ihn, Dementis in sein Notizbuch zu schreiben. Was die wert sind, weiß ich nicht, es ist doch klar, dass die mit einer Pistole an der Backe verfasst wurden. Ein echtes Dementi würde ein Inspektor auf einer Schreibmaschine tippen und in dreifacher Ausfertigung auf dem Dienstweg einreichen.

Gu nennt dem Inspektor die Namen seiner “Kollegen”, es ist klar, dass das sein Todesurteil ist. Dann legt er ihn um, seine übliche Vorgehensweise: im fahrenden Wagen (oder aus einem fahrenden Wagen heraus). Gerecht kann man das nicht nennen, Fardiano hat ihm gar nicht viel angetan. Gu ist ein finsterer Killer, und wird immer finsterer.

Ein Kinoplakat an der Wand. LA CASE DE L’ONCLE TOM ist natürlich ONKEL TOMS HÜTTE, und zwar die Version von 1965 von Géza von Radványi. Michaela May spielt da als Kind mit, die kann nun stolz darauf sein, sozusagen über Bande in einem Melville-Klassiker aufgetaucht zu sein.

Jetzt begegnen sich Gu und Orloff zum ersten Mal. Sie sind alte Freunde, vielleicht aus dem Krieg? Das erklärt jedenfalls Orloffs Einsatz für Gu die ganze Zeit über.

Dass Antoine wieder dieselbe Wohnung inspiziert, ist schon fast komisch. Die Kamera blendet aber ab und bleibt diesmal nicht so ausführlich.

Der letzte Blick zwischen Gu und Manouche, die mir jetzt etwas zu passiv bleibt. Die ganze Zeit war sie eine Kämpferin, nun könnte sie sich mehr in die Waagschale werfen, um Gus Leben zu retten. Aber wahrscheinlich begreift sie, dass es enden muss. Gu zieht eine Blutspur hinter sich her, die auch wirklich keine schöne Zukunft mehr ermöglicht.

Showdown im selben Zimmer, in dem es vorhin schon um Orloff ging. Genau wie in FRENCH CONNECTION wird auch hier Marcel Bozzuffi von hinten erschossen. Gleichzeitig eröffnet Antoine das Feuer. Gu erschießt aber den ganz reglos dasitzenden vierten im Bunde, Pascal. Die Choreographie ist hektisch und verwirrend, in ihrer Chaotik aber realistisch. Gus Gesicht ist im Liegen (zufällig?) durch seinen Mantelkragen mund- und nasenverdeckt wie das eines Banditen im Wilden Westen.

Er kommt nicht mehr hoch, vielleicht in den Rücken getroffen, beingelähmt. Bitter.

Blot ist unnachahmlich. Man meldet ihm die Schießerei: “Im dritten Stock!”, und er befiehlt sofort weiter: “Nur bis zum zweiten Stock hochgehen!” Um seine Männer vor Dumm- und Überstürztheiten zu schützen.

Letzte Schießerei im Treppenhaus. Auch Blots direkter Untergebener bewährt sich und verwundet den verschanzten Gu tödlich. Blot nimmt den sterbenden Gu in die Arme, was mir fast zu sehr ein Zugeständnis an den bärbeißigen Charme Lino Venturas zu sein scheint. Gu ist ein zweifacher, eiskalter Polizistenmörder und hat eigentlich von einem Polizisten kein Mitgefühl zu erwarten.

Gus letztes Wort ist “Manouche”. Mir fehlt für solches Machotum immer ein bisschen das Verständnis. Er hätte mit ihr leben können, anstatt ohne sie zu sterben.

Blot berichtet Manouche hart, Gu hätte nichts mehr gesagt. Um keine falsche Romantik aufkommen zu lassen, keinen Totenkult. Eigentlich richtig so. Dann spielt er aber noch Fardianos Dementis der Presse zu. Doch Totenkult? Nein. Er macht das, weil Fardiano Wasserfolter praktiziert hat, und Blot das nicht gutheißt.

Das letzte Wort des Rebus steht links in verschiedenen Schreibweisen an der Wand des Hauseingangs, durch den Blot im allerletzten Bild tritt: “Evelyne”. Ein Wort mit E fehlte noch im bisherigen A,B,C und F. Das Wort mit D habe ich aber übersehen, weil ich kein muttersprachlicher Franzose bin. Vielleicht findet es jemand anderes, die oder der von Anfang an weiß, was sie oder er suchen muss, irgendwo im Film.

DER ZWEITE ATEM hat mich mehrmals an der Nase herumgeführt, alle Achtung, dabei bin ich doch nun schon wirklich ein aufmerksamer Hinschauer. Der Plot ist toll, die Figuren superb. Er hätte aber noch stärker sein können, wenn die Platin-Überfallszene in der Mitte so brillant inszeniert worden wäre wie die abstrakte Gefängnisflucht zu Beginn. Der Überfall war zwar stark in der Annäherung, jedoch eher schwach in der Durchführung. Und ich vergleiche hier nicht mit heutigen Standards, sondern wir schreiben 1966, da hat es LOHN DER ANGST bereits vor dreizehn Jahren gegeben, es gibt David Lean, es gibt Kurosawa, es gab vor drei Jahren THE GREAT ESCAPE/GESPRENGTE KETTEN, und seit Neuestem sogar einen jungen Wilden namens Sergio Leone. Da kann man sich nicht darauf herausreden, dass exakt getaktete Action noch nicht geht. Es gibt sie schon.

Darüberhinaus möchte ich aber eine Fernsehserie sehen mit Commissaire Blot als Hauptfigur! 140 Folgen bitte! Mathieu Amalric böte sich an als Hauptdarsteller, er sieht Paul Meurisse ein ganz kleines Bisschen ähnlich. Chabrols sarkastisch-höhnischer Inspektor Lavardin ging ebenfalls in diese Richtung, und brachte es nach zwei Kinofilmen 1985 und 1986 tatsächlich 1988 – 1990 auf eine kleine Serie von vier 90minütigen Fernsehfilmen. Auch Léo Malets Romanfigur, der Privatdetektiv Nestor Burma, hat so etwas Komödiantisches, bei dem beschweren sich seine Gesprächspartner manchmal, dass sie keinen einzigen Satz aus ihm herausbekommen, der keine Übertreibung oder Verdrehung ist. Von diesen drei Figuren ist Blot jedoch die härteste und präziseste.

Starter Pack: Kapitel 270: Argentoia – 6: PROFONDO ROSSO/DEEP RED/ROSSO – DIE FARBE DES TODES (1975)

Ein Zwei-Stunden-Giallo, das ist schon einmal sehr ungewöhnlich. Sozusagen der Monumentalfilm unter den Gialli. Auf IMDB kann man das Plakat zu PROFONDO ROSSO sehen – es könnte auch zu Hitchcocks VERTIGO (1958) passen.

Ich beginne mit einer persönlichen Randbemerkung: Ich sehe PROFONDO ROSSO nun zum dritten Mal mit wahrscheinlich jeweils rund sieben Jahren dazwischen, und alleine schon die einzigartige Musik der Band Goblin (wenn ich das richtig aueinanderdividiere, stammt der Soundtrack von Goblin, die im Film zu hörenden Jazzstücke und die eher orchestralen Untermalungen aber von dem Jazzkomponisten Giorgio Gaslini) löst in mir den Impuls aus, sofort rockend mit dem Kopf zu nicken, geradezu mitzutanzen. Diese Musik ist wirklich außergewöhnlich, im Grunde genommen Fusion-Jazzrock wie von Pierre Moerlens Gong oder Mike Oldfield, in Filmen höchstens vergleichbar mit der Verwendung ebenjenes Mike Oldfield in DER EXORZIST (1973), sowie John Carpenters aber erst drei Jahre später entstandenem Soundtrack für HALLOWEEN (1978). Auf den möglichen Einfluss, den Gialli auf HALLOWEEN hatten, bin ich bereits in Kapitel 230 eingangen, siehe dort.

Ein Messermord zum Auftakt. Ein Kind ist involviert. Auch diesen Anfang hat John Carpenter für HALLOWEEN übernommen, jedoch mit weiteren Eigenheiten/Variationen (subjektive Kamera, das Kind ist nicht Zeuge, sondern Mörder) angereichert. Argento bietet mit diesem Anfang bereits die Lösung des Falles an, vertraut aber (zu Recht) darauf, dass die Zuschauer unter der folgenden Bilderflut diese Hinweise im wahrsten Sinne des Wortes wieder aus den Augen verlieren.

Die Musik verstummt schlagartig, als der Name „Dario Argento“ auftaucht, danach kommt neue Musik.

Spiel mit Bildkadrierung: Zuerst wirkt es wie ein nach rechts gerücktes, fast quadratisches Bild, dann gleitet die Kamera nach links und wir sehen: eine Säule diente links als Kasch. Das Format beginnt also vorgetäuscht klein und weitet sich dann durch eine gleitende Bewegung. Die Interpretation überlasse ich Freudianern oder Robbe-Grilletisten. (Zu letzteren gehöre ich allerdings.)

Sechziger-Jahre-Ikone David Hemmings, durch den ebenfalls italienischen BLOW UP 1966 berühmt geworden und hier immer noch schlank und engelhaft hübsch, spielt die Hauptrolle, den Jazzpianisten Marc.

Ein Parapsychologie-Kongress.

Das blonde Medium Helga Ullmann (Macha Méril) könnte auch nach der in dieser Zeit sehr präsenten (SZENEN EINER EHE ist von 1973) Norwegerin Liv Ullmann benannt sein, scheint mir hier aber durch ihren Vornamen eher eine Deutsche zu sein. Argentos nächster Film SUSPIRIA wird sogar in Deutschland spielen, eine Faszination ist also nicht zu leugnen. (Kleine Quizfrage nebenbei: Weiß jemand, wo Liv Ullmann geboren wurde? In Tokio.)

Sie spricht unter Stress auch deutsch („Nein! Geh raus! Geh raus!“), aber natürlich mit Akzent, weil Macha Méril Französin ist.

Das Wasser, das sie trinkt, fließt dann wie Ektoplasma aus ihrem Mund.

Der Wasserhahn, der aufgedreht wird, klingt wie eine kotzende Frau. Man vergleiche diese Zeile mit der davor, dann wird einem auffallen, dass sich das aufeinander bezieht, dass diese beiden Szenen assoziativ zusammenhängen.

Schwarze Lederhandschuhe von jemandem, mit dem „etwas nicht stimmt“. Heutzutage bauen Hélène Cattet und Bruno Forzani aus solchen Chiffres ganze Spielfilme, vor allem AMER von 2009 und DER TOD WEINT ROTE TRÄNEN von 2013. Ich finde die Filme dieser sehr sympathischen zwei (ich habe sie anlässlich von DER TOD WEINT ROTE TRÄNEN live auf dem Fantasy Filmfest Frage und Antwort stehen gesehen) leider unvollkommen, kann mich ihrer schamlos fetischistischen Faszination aber schwer entziehen. Das Plakat zu AMER zitiert wiederum das von PROFONDO ROSSO, das wahrscheinlich das von VERTIGO zitiert.

Wieder ein Spiel mit dem Bildrand. Diesmal ist die Säule, die einen Beobachter verbirgt, rechts.

Die Musik. Diesmal bricht sie voll durch/aus. Unterlegt mit einer rätselhaften Anordnung von Gegenständen, die die Geschichte eines psychopathischen Menschen erzählen.

Der Kajalstift unter dem riesigen Auge betont die Röte des Augenlids. Aber das ist das Auge eines Mannes, oder?

Helga spricht am Telefon deutsch, es ist gebrochen und fehlerstrotzend. In amerikanischen Filmen ist das aber noch viel schlimmer, da wird „unten“ auch mal als „anten“ ausgesprochen, von einem angeblich Deutschen. Es ist aber auch schwer, wenn nicht sogar unmöglich. Michael Fassbender hat sich in INGLORIOUS BASTERDS (2009) richtig viel Mühe gegeben, aber seinen Akzent, besonders wenn er das Wort „zurückkehren“ sagt, kann man als Deutscher nicht überhören, sodass er unter Deutschen nie als Deutscher durchgehen würde. Wirklich akzentfrei Deutsch kann meines Wissens unter heutigen nicht-deutschen Schauspielern nur Mark Strong, der hat eine österreichische Mutter und ist offensichtlich mehrsprachig aufgewachsen. Ich glaube, er spricht auch fließend italienisch, sein Vater ist Italiener. Argento sollte mit ihm arbeiten!

Jetzt wird es blutig wie beim Schlachter.

Berühmte Szene: Marc schlendert (selbst elegant in weißer Hose und schwarzem Hemd) durchs menschenleere, nächtliche Rom an einer Bar vorbei, die Edward Hoppers Gemälde „Nighthawks“ nachempfunden, aber eine modernere Version davon ist. Argento ist hier auf der Höhe der Filmkunst, im Grunde genommen ist jedes einzelne Bild aufgeladen mit Ästhetik, aber nicht grell und dadurch schnell lächerlich, wie später allzuoft in Filmen der 1980er (z. B. in STREETS OF FIRE von 1984), sondern cool wie Jazz oder Champagner. Wenn ich an PROFONDO ROSSO denke, sehe ich immer zuerst diese nächtlichen Straßen vor mir.

Marc begegnet seinem Freund Carlo (der junge Theaterstar Gabriele Lavia), einem trunkenen Sensibelchen. Lavias Performance hebt den Film noch einmal auf eine ganz andere Ebene, Argento-Filme sind in der Regel keine großen Schauspielerfilme, aber Hemmings ist schon stark, und Lavia ist noch stärker.

Ein grässlicher Frauenschrei gellt durch die Nacht.

Ähnlich wie der Protagonist in Argentos Erstling DAS GEHEIMNIS DER SCHWARZEN HANDSCHUHE (vgl. Kapitel 2) sieht auch hier der Held einen Mord. Wieder sieht er ihn durch Glas. Diesmal jedoch wird das Glas zerschmettert und schneidet das Opfer noch zusätzlich.

Bei den vorüberziehenden Kunstwerken an den Wänden könnte man schon jetzt (und noch besser mit Zeitlupenfunktion auf dem DVD-Player) ein Bild sehen, das den Helden noch martern wird, weil es von großer Bedeutung ist. Weil er auch hier – wieder genau wie in DAS GEHEIMNIS DER SCHWARZEN HANDSCHUHE – ein Detail gesehen hat, das nicht passt, das ihm lange nicht einfällt. Diese Filme sind auch Bilderrätsel, wie später die von Peter Greenaway. Wohl demjenigen, der ein fotografisches Gedächtnis sein Eigen nennt.

Man sieht den Mörder im braunen Regenmantel und Carlo kurz beide zugleich auf der Straße.

Marc vermisst etwas an den Wänden. Etwas, das vorhin noch da war.

Es stellt sich heraus, dass er in dem Haus, in dem Helga Ullmann eben ermordet wurde, sogar wohnt. Ein Stockwerk über ihr. Das macht ihn für die Polizei ein bisschen verdächtig. Vielleicht aber auch nur als Zeugen besonders wertvoll.

Auftritt Daria Nicolodi, die langjährige Nicht-Ehefrau Argentos und Mutter von Asia Argento (und muss man bald sagen: die Großmutter von Ana Lou Castoldi? das muss sich noch herausstellen), als Fotografin Gianna. Dario und Daria – die beiden mussten ja einfach zusammenkommen. Sie wird noch in sechs weiteren Argentos zu sehen sein, oft nur mit Gaststar-Kurzauftritten – SUSPIRIA jedoch wird sie sogar schreiben!

Schöner Szenenaufbau: In der Mitte eine halb liegende riesenhafte Statue, weit rechts und weit links die beiden Freunde, die brainstormen. Nochmal zu den Straßen und zu Greenaway: DER BAUCH DES ARCHITEKTEN (1987) hat eine ähnliche Ästhetik. Auch ein Rom-Film. Vergleiche auch die unheimliche nächtlich-leere Piazza in LA RAGAZZA CHE SAPEVA TROPPO (Kapitel 250), dem ersten Giallo überhaupt, von 1963.

Helga bekommt ein jüdisches Begräbnis. Eine deutsche Jüdin, im Krieg also höchstwahrscheinlich auf der „richtigen“ Seite.

Die obligatorischen furchtbar schlechten Dialoge zwischen Frau und Mann bei Argento. Warum hat er diese Szenen nicht bereits von der hierin sicherlich talentierteren Daria schreiben lassen?

Der verrückte Fahrradfahrer mit der Italien-Flagge ist ein direkter Verweis auf Argentos vorherigen Film DIE HALUNKEN (vgl. Kapitel 200). Dort wurde ja diese Flagge ausführlich diskutiert.

Der Held ist klaustrophobisch. In dem winzigen Fiat 500 von Gianna wird das nicht besser.

Das Armdrücken zwischen Mann und Frau ist nicht unspannend. Gianna ist größer als Marc, ich erwarte fast, dass sie mit ihm den Boden aufwischt, aber dann denke ich, er ist Pianist, er muss also eigentlich recht gut trainierte Arme haben, sein Schwachpunkt sind wahrscheinlich eher die Beine. Wahrscheinlich könnte sie schneller rennen als er.

Das ist toll: Clara Calamai spielt als Carlos Mutter eine gealterte Schauspielerin, und die Wände sind tapeziert mit Clara Calamais tatsächlicher Karriere. Sie war ein sehr hübscher, aber auch talentierter Filmstar in den 1940er Jahren. Sie spielte die weibliche Hauptrolle (Massimo Girottis verhängnisvolle Liebe) in Viscontis Erstling OSSESSIONE von 1942, jener Verfilmung von „The Postman always rings twice“, die vier Jahre vor (!) der ersten amerikanischen Filmfassung (mit Lana Turner und John Garfield) entstand. Also die Hauptrolle in einem der berühmtesten italienischen Filmklassiker überhaupt und einem der „1001 Movies You Must See Before You Die“ von Herausgeber Steven Schneider! Ich sagte ja schon: PROFONDO ROSSO ist Argentos wohl größter Schauspielerfilm, trotz Karl Malden in DIE NEUNSCHWÄNZIGE KATZE und Alida Valli und Joan Bennett in SUSPIRIA.

Carlo ist bei seinem weiblich wirkenden Freund Massimo (die Darstellerin Massimos heißt Geraldine Hooper, ist also transsexuell, nicht Transvestit.) Massimos Augen waren es, denke ich, die wir in Großaufnahme mit Kajal gesehen haben.

Homosexualität taucht bei Argento immer mal wieder auf. In DIE NEUNSCHWÄNZIGE KATZE wurde sie noch ein bisschen belächelt, der Schwulenclub musste als exotische Location herhalten. Hier in PROFONDO ROSSO jedoch gelingt ihm erstmals – dank der anmutigen Geraldine Cooper und des anrührenden Gabriele Lavia – ein würdevolles, geradezu behutsames Porträt.

Lustig, wie sowohl die Zeitungen als auch das Fernsehen immer auf den einzigen Zeugen des Mordes hinweisen (die Zeitung brachte sogar sein Foto, das Fernsehen spricht von einem „englischen Pianisten“, von denen es in Rom auch nicht allzu viele geben dürfte) – sodass dieser zur natürlichen Zielscheibe des Mörders wird. Vielleicht ist das mit der Polizei so abgesprochen, und Marc wird absichtlich als Köder installiert. Wen schert in Rom schon ein englischer Pianist?

Marc und Carlo spielen nebeneinander an einem Klavier sitzend Boogie Woogie in der Bar. Carlo verdient so sein Geld, als Barpianist.

Die Kamera dringt wie ein Mörder in Marcs Privatzimmer ein, indem sie die Gardine beiseitefegt.

Jemand schleicht auf seinem Dach herum, und ein pathologisches Kinderlied stört ihn beim Komponieren. (Das Lied war schon beim Mord ganz zu Anfang zu hören, und später noch einmal. Wir verbinden es mit dem Mörder wie eine Erkennungsmelodie.)

Der zügig zurückgelegte Kameraweg vom Klavier zur Wohnungstür ist hochinteressant. Heutzutage sind wir solche, oft auch computergenerierten Bewegungen gewöhnt – aber 1975? Hat Argento hier etwa mit einer Steadycam gearbeitet? Nein, die Steadycam taucht erstmals 1976 (also nur ein Jahr später) in einem Kinofilm auf, und zwar in Hal Ashbys BOUND FOR GLORY/DIESES LAND IST MEIN LAND, und kurz darauf in ROCKY und MARATHON MAN (beide ebenfalls von 1976). Ich habe sie sogar erst seit WOLFEN (1981) auf dem Schirm, weil ich bei THE SHINING 1980 irrtümlich annahm, die Kamera führe in einem Wagen durch die Flure wie der kleine Junge auf seinem Dreirad. (Tatsächlich fährt die Steadicam in THE SHINING, und zwar auf einem Rollstuhl montiert, aber eine normale Kamera hätte bei jeder Teppichkante geruckelt.)

Schön, wie Marc einhändig weiterspielt, während seine andere Hand bereits etwas zum Zuschlagen umklammert.

Die Mörderstimme durch die Tür ist ein genaues Zwischending zwischen weiblich und männlich.

Ein Buch von „Amanda Righetti“ bringt Marc auf die Spur der unheimlichen Villa: das „Haus des schreienden Kindes“. (La Villa del bambino urlante.)

Dass in dem Folkloremuseum die venezianischen Gondeln prominent ins Bild gerückt werden, könnte ein nett gemeinter Gruß an WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN sein, der ist nämlich von 1973, also zwei Jahre vorher entstanden, und sicherlich 1975 noch sehr präsent.

Dass Jake Gittes in CHINATOWN (1974) Seiten aus einem Museumsbuch reißen musste, habe ich für die späten 1930er verstanden (CHINATOWN spielt 1937) – aber gibt es 1975 nicht schon Kopiergeräte in Bibliotheken? Ich denke schon, Xeroxe gab es bereits in den 1960ern. Ich vermute also auch hier wieder einen Gruß an einen ebenfalls aktuellen, von Argento sicherlich geschätzten Film. Es ist übrigens clever, all diese Grüße in einem Museum zu platzieren. Als wäre es ein Filmarchiv.

Erneut die Musik, die Spielzeugrätsel, das Kajalauge. Die Musik wird aber diesmal hart abgewürgt.

Wir lernen die Autorin Amanda Righetti kennen, eine schöne Frau (Giuliana Calandra). Die Titel in der Filmographie einer schönen Italienerin lesen sich immer dementsprechend, bei Giuliana Calandra finden wir (unter anderem) 1973 LIEBE UND ANARCHIE, ebenfalls 1973 DER NONNENSPIEGEL, 1975 DIE HEISSEN ENGEL und 1976 ZUM TEUFEL MIT DER JUNGFERNSCHAFT. Besonders LIEBE UND ANARCHIE würde ich gerne sehen, ich würde sehr gerne eine Lina-Wertmüller-Serie starten, aber viele ihrer Filme sind leider unmöglich aufzutreiben, höchstens auf Italienisch, und da verstehe ich dann einfach zuwenig von den politisch gepfefferten Dialogen.

Der Mörder hängt überall Puppen auf. Der Mörder ist ein Auge im Schrank. (Ein Zyklop?) Der Mörder ist ein Puppenköpfer. Der Mörder braucht jedenfalls dieses Kinderlied, um in die richtige Stimmung zu kommen.

Die angreifenden Vögel sind natürlich ein Hitchcock-Verweis. DIE VÖGEL ist von 1963.

Der Mörder ist hinter dir. Der Mörder ist ein Bücherfreund. Der Mörder lässt schon mal das Wasser ein. Richtig, richtig heiß. Das Opfer verliert nicht nur Blut, sondern auch Speichel.

Der Mord ist grauenhaft sadistisch. Das Opfer wird in dem heißen Badewasser regelrecht gekocht. Die schöne Frau ist keine schöne Frau mehr. Brutal hält Argento auf das verbrühte Gesicht drauf. Ich finde, das ist sein scheusslichster Mord, habe aber lediglich acht seiner noch folgenden fünfzehn Filme gesehen, weiß also nur halb, was noch alles kommt.

Ich lenke mich mit technischen Detailfragen von meiner Beklommenheit ab: Wie dreht man eigentlich Szenen mit heißem Dampf und beschlagenen Oberflächen, ohne dass auch die Kamera beschlägt? Meine Brille würde sofort beschlagen in einem Raum mit Dampf.

Jedenfalls hat das Opfer vorm Sterben noch etwas auf die beschlagenen Kacheln geschrieben, aber mit dem Auskühlen des Raumes ist leider auch die Beschlagenheit verflogen.

Marc kommt zu spät, verteilt aber seine Fingerabdrücke am Tatort und reitet sich dadurch noch mehr in die Bredouille. Warum er nicht die Polizei verständigt, um sich zu erklären, verstehe ich nicht. Er kann doch auch die arme Tote nicht einfach so da liegen lassen!

Dass er nicht weiß, wo das Spukhaus steht, wundert mich ebenfalls. Stand denn in der Geschichte nicht wenigstens der Name einer Stadt? Von dort wäre es dann sicher nicht schwer zu finden.

Wieder funktioniert der Dialog zwischen Mann und Frau nicht. Warum sagt Gianna „bla, bla, bla“, während Marc ihr gerade erklärt, dass er sie nicht verdächtigt? Manchmal wirkt es, als wären diese Dialoge phasenverschoben, als würde Argento Klischee-Textbausteine hin- und herschieben und schließlich zufällig angeordnet so belassen. „Ist mir egal“, scheint er zu denken, „zwischen Mann und Frau ist doch sowieso alles nur bla, bla, bla.“ Dabei ist er aber auch kein Erotomane, bei dem die Figuren nach ein paar lieblosen Sätzen sexuell übereinander herfallen müssen, sondern es geht ihm um die Morde und die Psychopathen und die Angst, und das Nähern der Angst, und um das Verzögern von Mord, und um Bilder und Musik und um Kunstästhetik, und das Geschwafel dazwischen scheint ihn zu nerven. Deshalb wird zum Beispiel in den oben erwähnten Filmen von Hélène Cattet und Bruno Forzani so gut wie gar nicht mehr geredet. Sie lassen das alles weg und stürzen sich gleich auf Großaufnahmen von Augen, Lippen, Nippeln, Leder, Reißverschlüssen und Rasiermesserklingen.

Die Komik ist hier auch ganz schön deplatziert. Ich habe immer noch das verbrühte Gesicht vor Augen und die Frau, die da immer noch ungeborgen rumliegt wie etwas Weggeworfenes, und Marc fährt pfeifend durch die Gegend und kraxelt zu lustiger Musik mit Gianna, die nur daran denkt, wie sie ihn in ihre Wohnung abschleppen kann, durchs Autodach aus dem Fiat. Ich kann mir nicht helfen, aber wirklich sympathisch kommen mir die beiden nicht vor. Und ich habe keine Ahnung, ob Argento das so beabsichtigte, oder ob er hier das Gleichgewicht verloren hat, das sorgfältige Gegeneinanderabwägen der Anteile von Grauen und Erleichterung. Nehmen wir mal als Gegenbeispiel den gerne von mir erwähnten LA RAGAZZA CHE SAPEVA TROPPO (wiederum Kapitel 250): In der Mitte gibt es diese unfassbar spannende Sequenz mit dem Schatten am Nebelfenster, und als dann John Saxon reinstürmt und mit Karacho auf die Schnauze fliegt, lacht alles erleichtert auf. Denn es ist ja auch gar nichts Schlimmes passiert. Das ist hier aber anders.

Schön, bei wie vielen Gärtnereien Marc nach der auf dem Foto zu sehenden Pflanze recherchieren muss. Aber hat ein alter Gärtner wirklich noch die Rechnungen von vor Jahrzehnten? Und vor allem: Woher wusste Marc, in welcher Stadt er Gärtnereien abklappern muss, wenn er noch nicht einmal weiß, in welcher Stadt sich das Haus befindet? Ach so, stimmt ja: Alle Wege führen nach Rom. Also auch die Vertriebswege.

Die Polizisten spielen einen lustigen Sketch. Auch dies überflüssig und schwach. Es stört auch im Fortgang von Marcs Ermittlungen. Lieber würde ich ihn nochmal zuhause Klavier spielen sehen und hören, beim Nachdenken.

Marc lässt die Leiche der Schriftstellerin immer noch rumliegen, erzählt aber schon dem Professor davon. Auch der soll sich den Tatort und die Tote mal anschauen gehen. Ja, sorgt sich im katholischen Italien denn niemand um Totenruhe?

Die beiden sich beißenden Hunde. Ein weiterer Querverweis? Diesmal auf Der EXORZIST (1973)? (Dort kämpfen nahe der Pazuzu-Statue in der Wüste zwei Hunde miteinander, ihr Gezänk wird dabei lauter und lauter, und leitet schließlich nach Georgetown über.)

Marc findet die Villa. Durch Rumfahren. Die Welt muss sehr, sehr klein sein. Seltsamerweise unterscheidet sich der Baumbewuchs kein bisschen von dem Foto aus dem Museumsbuch. Nach meiner Erfahrung verändern Gärten mit wachsenden Pflanzen sich sehr stark innerhalb einiger Jahre, ja sogar auch zu verschiedenen Jahreszeiten. Aber es ist natürlich klar, dass Argento das Foto für das Buch während der Dreharbeiten gemacht hat, also im selben Zeitraum, sogar bei identischem Wetter.

„Vendesi affittasi“ heißt „zu Verkaufen“ oder „zu Vermieten“.

Der Besitzer der Villa hieß Carl Schwarz, ebenfalls ein Deutscher. Ein Schriftsteller, der „ein komischer Typ“ war.

Die Leiche der Autorin wurde inzwischen von ihrer Putzfrau gefunden, uff.

Der Professor (Glauco Mauri) macht die Schrift durch neuen Dampf wieder sichtbar. Bleibt so eine Schrift bestehen, selbst wenn der Beschlag verschwunden ist? Ich fürchte, nicht. Sie wurde ja nicht mit einem Fettstift aufgetragen, sondern nur mit einem Finger. Man stelle sich vor, auf innen beschlagenen Busfenstern würde alles wiedererstehen, was jemals in langweiligen Wintern auf sie gekliert wurde. Romane könnte man da lesen.

Oh nein: Die Sterbende hat geschrieben „ESTA T“, was die Untertitel mit „Es war“ übersetzen, etwas ungenau, eigentlich heißt es eher „das T…“, dann ist sie gestorben. Wir merken uns: Im Sterben immer mit der wesentlichen Information zuerst loslegen, dann erst vollständige Sätze bilden!

Die Szene mit der Eidechse ist für mich Argentos Tiefpunkt. Nicht nur in diesem Film, sondern überhaupt. Tierquälerei muss man in Filmen nicht dulden, ich boykottiere schon OLDBOY lebenslang deshalb, und hätte mir gewünscht, einige andere Filme ebenfalls boykottiert zu haben, bevor ich sie nichtsahnend gesehen habe. Da ich hier nicht genau hingucken will, behelfe ich mir mit einem Trost-Gedanken: Es gibt doch diesen Zaubertrick, bei dem man vortäuscht, einen Nagel im Finger stecken zu haben, während in Wirklichkeit ein Draht um den Finger herumführt und beide Nagelhälften verbindet. Sowas hätte man hier auch machen können. Ich befürchte aber, dieser Aufwand wurde nicht betrieben, und man hat einfach einen kleinen Gecko lebendig durchbohrt. Immerhin – und das ist ja wohl das Allermindeste – heißt der Film das nicht gut oder findet es lustig, sondern das teuflische kleine Mädchen bekommt dafür eine krachende Maulschelle verabreicht.

Marc legt sich zu einem Groove von Goblin mit dem fantastischen alten Haus an.

Das Haus strotzt innen vor Schauwerten. Der Film lässt sich hierfür auch viel Zeit, gibt sich dem Haus regelrecht hin. Wir sehen unter anderem das Foto eines alten Mannes.

PROFONDO ROSSO nimmt hier Computerspiele vorweg, in denen man die Räume noch ausführlicher hätte abklappern können. Atmosphärisch kommt er einer solchen interaktiven Erkundung aber schon erstaunlich nahe, näher als die meisten anderen Filme. Computerspieltypisch ist übrigens auch, dass Marc nicht alles Schritt für Schritt untersucht, sondern wieder rausgeht, wieder reinkommt, versucht, den Grundriss abzugleichen, einen bestimmten Raum zu finden – und sich schließlich auf eine ganz bestimmte Wand fixiert. Heutzutage würde man ihn die ganze Zeit mit sich selber reden lassen, damit jeder unmissverständlich hört, was in ihm vorgeht. Meistens ist das überflüssig.

Marc legt ein blutrünstiges Kinder-Wandbild frei. Interessant auch, dass der Keller unter Wasser steht. Einen Wasserkeller werden wir in Argentos HORROR INFERNAL (1980) noch ausführlicher erkunden, das wird Film 8 dieser Serie.

Mittlerweile ist es draußen dunkel geworden. Das Haus scheint sich gegen Marc zu wehren, er verletzt sich mehrmals.

Die Straßenbau- oder Abrissarbeiten auf der Straße sind schleierhaft. Was macht der Typ im roten Trainingsanzug da?

Jetzt wird Suspense erzeugt einfach nur dadurch, dass wir dem Professor ausgiebig beim Teemachen und Teetrinken zusehen. Das wäre übrigens der erste Mord an einem Mann in diesem Film.

Die schwebende Puppe, die reinkommt, hat etwas Übernatürliches, oder? Inszenatorisch hängt sie wohl erst an Fäden, dann rollt sie – aber wie soll das innerhalb der Handlung möglich sein? Und wo kommt sie her? Hat der Professor solche hässlichen Puppen zuhause? Nein, das ist ein Schreckmoment ohne jegliche Verankerung im Realismus.

Immer auf die Zähne. Aua.

Wie Gianna „Libanon“ sagt, und dabei so eine Art Herz-Aufflieggeste macht, fasziniert mich. Das Wortspiel „Liebe“/“Libanon“ funktioniert nur im Deutschen. Vielleicht hat es im Italienischen etwas mit „liberta“/“Freiheit“ zu tun.

Auf dem Foto mit Marcs früherer Freundin Carol ist übrigens Marilù Tolo zu sehen, vgl. die anderen Argento-Kapitel 170 und 200, aber auch abseits von Argento die Kapitel 40 und 244. Der Filmbetrachter wird mehr und mehr zu so etwas wie Marilù-Tolo-Festspielen. Gianna veralbert sie hier als „supersexy Vamp“.

Und nochmal zur Villa. Diesmal von Anfang an nachts.

Das fehlende Fenster in der Fassade ist ein hübsches „Finden Sie den Unterschied?“-Bilderrätsel.

Marc ist halt Pianist, kein Architekt. Wäre er Architekt, würde ihm die Idee kommen, dass er auch im Inneren des Hauses eine Mauer zu dem „Locked Room“ durchbrechen kann. Er muss das nicht von außen tun, nur weil da mal ein Fenster war. Dann hätte er sich die ganze halsbrecherische Kletterei an der Fassade im Obergeschoss sparen können. Für den Film ist es aber natürlich spannender, ihm beim Hangeln anstatt beim Heimwerken zuzuschauen.

Ah, nach dem Beinahe-Absturz draußen macht er es tatsächlich drinnen.

Hemmings muss malochen für sein Honorar, und in Echtzeit eine Wand einreißen. Dass er dabei keine Schutzbrille trägt, würde man heute nicht mehr so machen, in den 1970ern scherte sich noch niemand über Sicherheit, Passivrauchen, Nahrungsmittelallergien oder dergleichen.

Was kann man denn in einem Locked Romm möglichst Spektakuläres finden? Am besten eine grausige … ah, da ist sie ja!

„Die Leiche, der versteckte Raum und das Bild an der Wand“. Ein guter Titel für einen Giallo. Es gibt einen sehr guten namens DIE WAFFE, DIE STUNDE, DAS MOTIV, von 1972. Wenn meine Giallo-Serie in den Sixties abgeschlossen ist und ich in die Siebziger vorstoße…

Dass Marc nun ausgerechnet im Kinderzimmer der Tochter des Hausverwalters einen weiteren Hinweis findet, den diese aber gar nicht aus der Villa hat, sondern irgendwann einmal in den Archiven ihrer Schule gesehen hat, ist sowas von unwahrscheinlich! Wieviele Faktoren müssen da zusammenkommen? Das Mädchen muss ins Archiv „strafversetzt“ werden. Dort muss ihr unter tausenden von Bildern ausgerechnet dieses unter die Hände kommen. Es muss sie so beeindrucken, dass sie es zuhause nachzeichnet. Sie muss diese hässliche, blutige Zeichnung deutlich sichtbar in ihrem Zimmer drapieren. Marc muss dieses Zimmer sehen. Damit er überhaupt in diese Wohnung kommt, muss es in der Villa brennen und er von irgendwem niedergeschlagen und dann von Gianna geborgen und zum Hausverwalter gebracht werden. Mir brennt von sowas das Oberstübchen genauso wie die Villa. Wenn Sherlock Holmes beim Ermitteln dermaßen von Zufällen abhängig wäre, würde die „Studie in Scharlachrot“ nach wie vor bei Scotland Yard unter „ungelöst“ abgeheftet sein.

Gemütliche Schule. Jemand hat mit roter Farbe übers Klo geschrieben: KILL YOUR FATHER AND MOTHER.

Das Aufsuchen der Schule erinnert mich wieder an ein Computerspiel, und zwar an ein ganz Bestimmtes: „Silent Hill“, von 1999. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Macher PROFONDO ROSSO kannten. Der Look von „Silent Hill“ war allerdings deutlich eher barkeresk als argentoisch.

Was da im Archiv oben auf dem Schrank steht: „Disegno“ heißt „Design“.

Jetzt wird es gefährlich für Gianna, mehr als nur gefährlich sogar. Bezeichnend, dass Marc auch hier wieder an ihr vorübergeht und in ihrer Nähe stehenbleibt, ohne sie wahrzunehmen. Ihre ganze Beziehung war so. Sein Fokus lag immer woanders.

Die Schnittfolge, als Carlo die Pistole abdrückt, ist so schnell und hektisch, dass ich ohne Zeitlupenfunktion nicht erkennen kann, was genau passiert. Mit Zeitlupe schon. Also irgendwie tatsächlich ein interaktiver Film.

Carlo bringt es fertig, auf offener Straße mithilfe der beiden einzigen nachts überhaupt unterwegs seienden Fahrzeuge einen völlig grotesken Tod zu sterben. In Berlin könnte das nicht passieren, da halten die Müllwagen alle fünfzig Meter an, und die Müllmänner schwärmen aus und machen denjenigen los, der sich da hinten verhakt hat, während sie ihn für seine Ungeschicklichkeit anschnauzen.

Das ist aber noch nicht das Ende. Carlo mit seiner Pistole war nie und nimmer der bizarre Serienkiller. Jetzt erinnert sich auch Marc, dass er Carlo und den Killer ja beide gleichzeitig auf der Straße gesehen hat.

Sehr schöne Auflösung des ersten Bilderrätsels: Das Bild war kein Bild, sondern ein Spiegel. Und nicht das Bild ist verschwunden, sondern das Gesicht, das im Spiegel reflektiert wurde. Man hat dieses Gesicht tatsächlich am Anfang sehen können. Aber wieder: interaktiv, ohne Zeitlupe kaum zu erfassen. Ein Film für Heimkinofreaks wie mich.

Schön auch, wie David Hemmings‘ Engelsgesicht in die ganzen Dämonenfratzen eingefügt wurde.

Die Kajalaugen der Mörderin sind definitiv nicht die, die wir zweimal als Augen des Mörders verkauft bekommen haben. Argento hat hier massiv getrickst, auch wieder mit weiblich/männlich, die Würgerhände waren einmal seine eigenen, nicht die einer Frau. (Hat er irgendwann erzählt.)

Auch die Mörderin stirbt einen grotesken Tod. Die Eiweißflüssigkeit, die aus dem Mund der geköpft Werdenden dringt, entspricht dem Wasser, das zu Beginn aus Helgas Lippen lief. Und dem Speichel aus dem Mund der sterbenden Autorin. Das sind auch sexuelle Chiffren, milchige oder klare Flüssigkeiten, die aus Frauenmündern rinnen. Das ist Pornographie, aber nicht erotische, sondern thanatische.

Am Ende spiegelt Marc sich in ihrem Blut, einer weiteren Körperflüssigkeit, im tiefen Rot. Profondo Rosso.

Leider ein zwiespältiges Werk.

Auf der einen Seite ästhetisch atemberaubend und mitreißend, die Bilderrätsel sind famos erdacht, das Potenzial eines Meisterwerks ist immer wieder spürbar – auf der anderen Seite jedoch stellenweise geschmacklos (ja, etwas kann gleichzeitig ästhetisch und geschmacklos sein), mangelhaft ausbalanciert, mit Logikproblemen und einigen unterirdischen Dialogen.

Die Amerikaner haben eine Fassung von PROFONDO ROSSO erstellt und vertrieben, die etwa eine halbe Stunde kürzer ist – und eben genau die schlechten Komik-Szenen und die Interaktionen zwischen Marc und Gianna eliminiert hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Film dadurch gewinnt, dass vor allem Marc und Gianna selbst dadurch sympathischer werden. Aber: Wenn PROFONDO ROSSO nur noch eine Aneinanderreihung von grausamen Tötungen und perfektionistischen Hochspannungsasttraktionen ist – wird er dann nicht irgendwie unmenschlich?  Wie eine auf Gewalt programmierte Maschine? Ohne jegliches Rumeiern dort, wo man eben nicht einfach nur abtöten kann, sondern sich heikel zwischenmenschlich abmühen muss?

Die Amerikaner haben das Schwache einfach abgetötet. Man kann davon ausgehen, sie trugen dabei Lederhandschuhe und hörten ein Kinderlied.

Ich bin gegen Filmkürzungen. Weil das den Traumfabriken ihr Delirium raubt, und nur noch kalte Fließbänder übriglässt.

Starter Pack: Kapitel 12: Hammer und Pflock – Der Hammer-Vampir-Zyklus 1 von 16: HORROR OF DRACULA/DRACULA (1958)

Insgesamt gibt es sechzehn Vampirfilme der Hammer-Studios: sieben davon sind Dracula-Szenarien mit Christopher Lee (einen anderen Dracula als Christopher Lee hat es in diesem Studio nicht gegeben, wohingegen genau einmal ein anderer Dr. Frankenstein als Peter Cushing ausprobiert wurde), ein Film gehört durch Peter Cushing als Van Helsing zum erweiterten Dracula-Mythos, enthält aber keinen Dracula, drei weitere bilden die Karnstein-Trilogie und fünf Filme sind Einzelgänger, wobei einer von jenen aufgrund seiner Hauptdarstellerin Ingrid Pitt in die Nähe der Karnstein-Trilogie gerückt werden kann.

Diese sechzehn Filme und ihre wechselseitigen Bezüge in chronologischer Abfolge zu betrachten ist hier mein Ziel.

Schon die Titelmusik von James Bernard ist hochinteressant. Das Leitmotiv besteht aus drei Tönen, sodass man den Namen „Dra-cu-la“ dazu singen könnte, aber es wäre wahrlich kein fröhliches Liedchen, das man da zum Besten gäbe. Unheildräuender, ja fatalistischer geht es kaum.

Weshalb während der Titelsequenz ein Wappen-Adler im Bild ist, erschließt sich mir nicht ganz. Es sollte wohl einfach ein unheimliches Wesen sein, aber ein Drachen wäre für „Dracula“ natürlich passender gewesen als ein Adler, und eine Fledermaus erst recht. Vielleicht soll der Adler ja eine Art Drachenfledermaus darstellen.

Die Kutsche, die Jonathan Harker zum Schloss Dracula bringt, ist offensichtlich eine Schweizer Kutsche, man beachte das weiße Kreuz auf rotem Grund an der Seite. Dracula ist demnach bei Hammer Schweizer. Das mutet sehr ulkig und willkürlich an, entspringt aber einer guten alten Tradition: Frankenstein hielt sich ebenfalls (laut Mary Shelleys Roman) in den Schweizer Alpen auf, und für Engländer wie Amerikaner ist alles Deutschsprachige gleichermaßen gotisch, sodass man auch den anderen großen Horrorstar guten Gewissens nach dort verpflanzen kann. (Wenn man mal darüber nachdenkt, klingen „Dracula“ und „Ricola“ erstaunlich ähnlich – wer hat’s erfunden?)

In der englischen Originalfassung wird ein in der Nähe befindliches Dorf namens „Klausenburg“ erwähnt, das allerdings in Siebenbürgen, also doch Rumänien, liegt, und unter dem Namen Cluj-Napoca Rumäniens zweitgrößte Stadt ist. Wahrscheinlich war die Kutsche also nur ein Leihstück, oder Jonathan Harker ist mit ihr aus der Schweiz nach Rumänien gefahren.

Dracula hat eine sehr schöne Handschrift, fast wie ein Schriftenfont. Nur die willkürlich wirkenden Abstände zwischen den Worten deuten auf einen unausgeglichenen Charakter hin.

Das Motto von Schloss Dracula lautet „Fidelis et mortem“, was so viel heißt wie „treu und Tod“, und somit sehr seltsames Latein ist. Wahrscheinlich ist eher „Fidelis ad mortem“ gemeint, treu bis in den Tod, was gut zu Draculas zu Lebzeiten feldherrenhaftem Gebaren passen würde. (Ein unterhaltsamer, weiterführender Blogartikel von Penelope Goodman über Draculas fehlerhaftes Latein lässt sich finden unter https://weavingsandunpickings.wordpress.com/2014/01/25/fidelis-et-mortem/, obwohl dort leider der Denkfehler gemacht wird, Dracula hätte sein Schloss erst nach seiner Untotwerdung errichtet, was eher unwahrscheinlich ist. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass es sich um das Motto einer noch lebendigen Familie handelt.)

Harker ist Bibliothekar, nicht Makler wie im Roman. Draculas erster Auftritt ist sehr gentlemanly, er ist sich aber nicht zu fein, Harker den Koffer nach oben zu tragen (was für einen Grafen wirklich ziemlich außergewöhnlich ist). Er spricht auch ganz normal, was sich in den weiteren Hammer-Filmen zugunsten einer größeren Tier- oder Dämonenhaftigkeit ändern wird. Man gewinnt den Eindruck, Dracula ist bei sich zuhause mehr Mensch als auswärts. Dass er mit blutroten und weißen anstatt mit schwarzen und weißen Figuren Schach spielt, ist ein neckisches Detail des Set-Designs.

Aha: Harker gibt sich nur als Bibliothekar aus! In Wirklichkeit ist er gekommen, um Dracula zu vernichten. Das ist eine gravierende Abweichung vom Buch. Wahrscheinlich wollte man bei Hammer einen draufsetzen auf die auch schon aus Tod Brownings Verfilmung von 1931 und sogar aus Murnaus NOSFERATU allzu bekannte Rolle Harkers als Opferlamm. Dieser Harker, obwohl er tölpelhafter und dümmlicher wirkt als seine Entsprechungen aus früheren Filmen, soll also ein knallharter Agent sein. Na, mal sehen.

Und schwupps, schon baut er Mist. Denn wenn er weiß, dass Dracula eine Schreckensherrschaft („reign of terror“) ausübt, weshalb ist er dann gegenüber Draculas Braut nicht argwöhnischer? Weiß er um Vampirismus, oder hält er Dracula nur für einen seine Untergebenen knechtenden Gutsbesitzer? Wenn man nichts über Vampirismus weiß, muss man die Geschichte der Braut rein sexuell verstehen (sinngemäß: „Er hält mich gefangen und Sie wissen nicht, was für schreckliche Dinge dieser Mann tut!“), und Dracula für einen genießerischen Sadisten halten.

Aber dann verliert der Count seine Contenance, und sämtliche Masken fallen. Harker ringt hilflos mit ihm, hoffnungslos unterlegen, man fragt sich wirklich, was er ursprünglich gegen ihn zu tun beabsichtigte.

Okay, Harker weiß über Vampirismus Bescheid. Er weiß, wie es um ihn bestellt ist. Er hat sogar ein Pfählungs-Ausrüstungs-Set für den aufstrebenden Vampirjäger dabei. Mir schleierhaft, weshalb er vorher so arglos war und im Grunde genommen jetzt schon alles vermasselt hat. Immerhin bricht er auf, um Dracula im Sarg anzugreifen. (Ich frage mich, welcher mutige Mensch stets ein frisches Blümchen zu der Marienstatuette vor Schloss Dracula bringt.) Aber schon wieder macht Harker alles falsch. Er hat den hilflosen Dracula und dessen ebenso hilflose Gespielin vor sich. Wen pfählt er zuerst? Die hilflose Gespielin! Wie dumm kann man denn sein? Der Fisch stinkt doch vom Kopf her! Das dauert natürlich so lange, bis es dunkel ist. Auch das eine grandiose Idee von Harker. „Ich gehe zehn Sekunden vor Sonnenuntergang in Draculas Gruft, hmja, das erscheint mir klug.“ Ebenso grandios wie: „Bevor ich Dracula vernichte, muss ich ihm unbedingt noch meine Verlobte vorstellen.“ Vorhang für einen Vampirjäger, dessen Tollpatschigkeit und Unfähigkeit wahrscheinlich Roman Polanski 1967 zu THE FEARLESS VAMPIRE KILLERS/TANZ DER VAMPIRE inspirierte. (Harker darf danach nur noch einmal auftauchen, und dabei sogar als Vampir eher unvorteilhaft und trottelig aussehen.)

Dracula geht aber ebenfalls seltsam vor in dieser Szene. Er verlässt erst die Gruft, um dann von draußen wieder reinzukommen. Warum? Was hat er draußen gemacht? Sich das Blut aus den Mundwinkeln gewischt? Oder sich schnell die Hände gewaschen vorm Abendbrot?

Mir tun die Greisinnen leid, die in Hammer-Filmen immer für das herhalten müssen, was aus schönen Frauen wird, wenn der Fluch gebrochen ist. Hier und z. B. ebenfalls in Hammers SHE (1965). „Du legst dich jetzt da hin, damit der junge Mann sich in Grausen von dir abwenden kann.“

In der 23. Minute des Films: Auftritt der perfekt verkörperten Kompetenz – Peter Cushing als Van Helsing. Wir sind jetzt in Klausenburg, in der Schenke sehen wir Schilder für „Bischofbräu“ und „Rotwein“ (beides ebenjene deutschen Worte). Für mich wirkt das entweder wieder schweizerisch oder wie – das ergibt Sinn – von Siebenbürger Sachsen bevölkertes Rumänien. Wenn es aber das rumänische Klausenburg ist, bleibt rätselhaft, warum es immer als „Dorf“ bezeichnet wird, denn Klausenburg war die Hauptstadt des Großfürstentums Siebenbürgen.

Dracula – ein echter Romantiker: Von allen Frauen, die die Welt ihm zu bieten hat, muss es die eine sein, die Harker ihm gezeigt, und die Harker noch nicht besessen hat – ist vor Van Helsing bei den Holmwoods eingetroffen und webt dort bereits sein finsteres Netz. Die Szene, in der Lucy mit lüstern-verschlagenem Gesichtsausdruck ihrem nächtlichen Liebhaber das Fenster weit öffnet, ist dermaßen sexuell eindeutig, dass man kaum glauben kann, sich noch in den prüden 1950ern zu befinden. Sogar die Musik ist schwellend-pumpend, als wären wir hier in Tinto Brass‘ CALIGULA.

Interessant, dass ein Kruzifix in Vampirfilmen immer definiert wird als ein Symbol, welches die Macht des Guten über das Böse repräsentiert. Dabei stellt ein Kruzifix doch genau genommen den schmerzhaften Tod Christi dar, also das Ans-Kreuz-Geschlagenwerden des fleischgewordenen Gottes durch die vernagelten Menschen. Dieses Symbol könnte also durchaus auch als Niederlage des Guten interpretiert werden. (Bei Polanski wird es dann verlacht, aber nur, weil der betreffende Vampir kein Christ, sondern jüdischen Glaubens ist.)

Mir gefällt übrigens die Sprache Van Helsings: „Be guided by me, I beg you“ ist ein sehr feines, geradezu lyrisches Englisch, vorgetragen mit sanfter Stimme und festem Blick. Cushing ist als Van Helsing konkurrenzlos, obwohl schon so viele diese Rolle interpretiert haben, sogar später Sir Laurence Olivier.

Interessant ist, wie Lucy die Argumente Draculas „übernommen“ hat. Harker – der immerhin ihr Verlobter war – ist für sie einfach nur tot, und Van Helsings Reise, um Harker zu helfen, war nutzlos.

Kurios, dass Van Helsing nicht nachts an ihrem Bett Wache hält. Dies scheint der Schicklichkeit geschuldet, aber auch im 19. Jahrhundert – in dem der Film wie Stokers Roman spielt – wurden Ärzte nachts an die Betten kranker Frauen gerufen und blieben dort, wenn Gefahr in Verzug war, und das ist hier doch wohl eindeutig der Fall.

Von einer winzigen Rattenfänger-Melodie geleitet, geht das kleine Mädchen ganz allein in den Wald. Plötzlich eine Großaufnahme der vampirisch-bizarren Lucy, charakterisiert durch die beiden einzigen blutroten Herbstblätter des ganzen Wäldchens. Regisseur Terence Fisher versteht es meisterhaft, Atmosphäre zu erzeugen, und in dieser Atmosphäre dann ganz sublime, winzige Schocks zu setzen, die wie das Kribbeln einer Gänsehaut sind.

Der Gang der vampirischen Lucy ist großartig. Sie geht sehr hochaufgerichtet, mit ballerinahaften Schritten, einen oder beide Arme wie tastend von sich gestreckt, als wäre sie blind. Tatsächlich blickt sie sehr starr umher, wendet immer den Kopf, anstatt nur die Augen zu bewegen. Sie ist jetzt eine Fledermaus, aber auf einem ihr noch unvertrauten Terrain.

Die Pfählung Lucys, ihre Schreie, ihr verzerrtes Gesicht sind ausgesprochen grausig. Dazu nur ein wenig Blut, aber dennoch kaum auszuhalten. Man beachte, wie das Zwitschern der Morgenvögel draußen betont wird, bevor Van Helsing beginnt, und wie hart seine Hammerschläge jegliches Naturgeräusch unterbinden.

Später wird „die Grenze von Ingstadt“ erwähnt, über die Draculas Sarg gekommen sein muss. Ingstadt? Das klingt mir doch wieder sehr nach einer Verballhornung jenes Ingolstadt, in dem Viktor Frankenstein in Mary Shelleys Roman studiert hat. Dies wie auch die Schweizer Alpen verbinden Hammers Dracula fast mehr mit „Frankenstein“ als mit Bram Stokers „Dracula“-Roman.

Die Deutschbezüge werden immer kurioser: Die Adresse „Frederickstrasse“ in „Karlstadt“ spielt eine wichtige Rolle, ein Bestatter namens „J. Marx“ (immerhin nicht „K. Marx“, aber er ist quasi die Mischung aus Karl Marx und Josef Engels) wohnt dort, sämtliche Figuren sprechen diese Straße allerdings „Fridrigstrasse“ aus, als handelte es sich um die Berliner Friedrichstraße. Wir sind in Karlstadt also nun im Spessart, vielleicht verhöre ich mich aber auch, und wir sind in „Karstadt“, was in diesem Falle angemessen stünde für: großer Gemischtwarenladen.

In der Frederickstraße wird wieder Terence Fishers visuelles Gespür deutlich: Mina Holmwood steht in einem grünen Mantel mit goldenem Pelzkragen vor einem gelblichen Bereich des ansonsten rötlichbraunen oder blauen Hintergrunds. Diese gedeckten Farben stehen wie in einer impressionistischen Malerei flächig nebeneinander, vermischen sich jedoch harmonisch zu einem Eindruck pittoresker Nächtlichkeit.

Die nächste sexuelle Eindeutigkeit: Mina kehrt zurück von ihrem „Rendezvous“ mit dem transsylvanischen Grafen, das Lächeln einer durch und durch befriedigten Frau im Gesicht, vor Hochmut und einer gewissen Ausgelassenheit sprühend. „I feel perfectly well“, sagt sie auch, auf die besorgten Nachfragen ihres faden Gatten hin.

Dracula spricht tatsächlich kein einziges Wort mehr, nachdem er für Jonathan Harker den kultivierten Gastgeber und Kofferträger vortäuschte. Es ist faszinierend zu beobachten, wie er bei den Frauen nicht nur lüsternen Gehorsam, sondern auch Furcht auslöst, aufgrund seiner (und das ist wahrscheinlich durchaus auch sexuell zu verstehen) Größe.

Die minutenlange Ausführlichkeit der Bluttransfusion ist bemerkenswert. Es ist dies der wissenschaftlich-medizinische Versuch, gegen Draculas Einfluss anzukämpfen. Dieser Versuch ist in der Realität alles, was einem zur Verfügung steht, denn es gibt in unserer Wirklichkeit kein durch einen Dracula personifiziertes AIDS, kein personifiziertes Ebola, keinen personifizierten Blutkrebs, kein personifiziertes Corona-Virus, das man aufspüren und vernichten könnte. Die Figur Dracula ist in dieser Hinsicht beinahe eine tröstende Metapher, sein drastisches Vergehen eine erfüllte Wunschphantasie.

Hübsches Detail zum Ende: Dracula stirbt in genau dem Raum, in dem die Bücher stehen, die Jonathan Harker als Bibliothekar auflisten sollte.

Und noch ein Detail: Draculas Ring – der in der Fortsetzung DRACULA: PRINCE OF DARKNESS 1966 eine wichtige Rolle spielen wird – bleibt im astrologischen Symbol „Wassermann“ liegen, dem doppelten Wellenschlag. Gegen fließendes Wasser ist Dracula (siehe ebenjene Fortsetzung) ebenfalls allergisch.

Nun habe ich viel gespottet über Jonathan Harkers Unvermögen und die ständige Deutschverwursterei, aber dies zerstört den Film nicht im Mindesten. Von allen Dracula-Verfilmungen, die ich gesehen habe – und sämtliche wichtigen sind dabei – halte ich diese – vielleicht mit Ausnahme von Murnaus NOSFERATU – für die gelungenste, geschmackvollste, ästhetischste und auch wirkungsvollste. NOSFERATU hatte den scheußlichsten Vampir, Bela Lugosi ist heute nur noch schwerlich ernst zu nehmen, Coppolas Version krankt an ihrer eitlen Mätzchenhaftigkeit. HORROR OF DRACULA von 1958 jedoch hat den besten Van Helsing, den sehr eindrücklichen Christopher Lee, die unverschämtesten erotischen Subtexte, und mit Terence Fisher Hammers besten Mann, dessen beständiges Understatement nicht verhehlen kann, dass er mit seinen sorgfältigen Bildkompositionen, seinen Farben, seinen Lichtsetzungen edle Gemälde des Grauens anfertigte, die (im Gegensatz zu Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray) ausgesprochen würdevoll altern.

Das kostenlose Kapitel 9: JIU MING/KOMA (2004)

KOMA ist ein relativ unbekannt gebliebener Hongkong-Thriller des Regisseurs Law Chi-Leung, der mich nachhaltig beeindruckt hat. Nicht nur mit den herausragenden Leistungen der beiden Hauptdarstellerinnen Kar Yan Lam alias Karena Lam und Angelica Lee alias Lee Sinje, sowie exquisiter Kameraarbeit, sondern vor allem mit seiner geradezu schwindelerregenden Fülle von Plottwists, die allesamt Sinn ergeben. Das Faszinierendste daran war für mich, dass ein Film, der eine eigentlich recht krude und grausige Handlung aufweist (es geht genau genommen um die Niere einer Dialysepatientin, und verschiedene Möglichkeiten von legalen wie illegalen Transplantationen), im Grunde von der Verwickeltheit von Zuneigungen handeln kann.

Nichts an diesem Film ist einfach. Eine Dreieckskonstellation, bei der die beiden Rivalinnen sich anfangs hassen, sich sogar durch Psychoterror zu vernichten suchen, dann sich einander annähern, beinahe esoterisch miteinander verschmelzen, einander beistehen, Freundinnen werden, sich dann wieder entzweien, sich versöhnen, sich erneut entzweien bis zum Kampf auf Leben und Tod, um dann wiederum in tragische Selbstaufopferung zu münden. „Abstoßung“ ist hier ein Schlüsselwort – was für transplantierte Organe gilt, mag auch für die Beziehungen zwischen Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten gelten.

Der Film findet nie gesehene Auflösungen für Szenen, die man bereits woanders gesehen zu haben glaubt. Die Psychopathin-geht-mit-einer-Axt-auf-die-Jagd-Sequenz mündet darin, dass sie sich in Plastikplanen verfängt und erschöpft in die Transparenz atmend wie erstickend das Bewusstsein verliert. Gewalt bricht ganz abrupt aus und verkehrt sich dann wieder in Fürsorglichkeit. Brillant die Szene in dem Restaurant, wo die Nierenkranke ihre Lebensfrustration an Rührei und Teller auslässt, um sich dann noch – halbherzig den Konventionen folgend – zu entschuldigen. Wie sie sich zu mager fühlt, um sich vor ihrem Freund auszuziehen. Wie sie immer wieder ihren Mundgeruch überprüft und darunter leidet, dass sie das Gefühl hat, schlecht zu riechen. Wie der Genuss in den Augen der Liebeshungrigen in Enttäuschung umschlägt, als der untreue Mann sie im dirty talk des Liebesspiels ein „Miststück“ nennt. Wie aus solchen Bezeichnungen Selbstbilder abgeleitet werden. KOMA handelt viel mehr von solchen inneren Dramatiken, als von seinem vorgeblichen, zwischen Gegenwart und Vergangenheit verschachtelten Thriller- und Schockmomente-Plot.

Interessant auch, weshalb der Film eigentlich (für den internationalen Markt) KOMA heißt, denn lediglich eine Nebenfigur liegt in diesem Film im Koma, aus dem sie übrigens niemals erwacht. Der Produzent erklärt das im Making of: Der Film heißt KOMA, weil er von Hilfe handelt, die einer hilflosen Person gegen ihren Willen zuteil wird. Das ist faszinierend komplex gedacht.

Würde Hollywood so denken, müsste IRON MAN statt IRON MAN „Eierschale“ heißen, der STAR WARS-Zyklus nicht KRIEG DER STERNE, sondern „Das mit Lichtgeschwindigkeit auf der Stelle Treten“, DER EXORZIST „Die Vielfalt von Treppen“ und DER PATE II „Das Boot auf dem See“.

Das kostenlose Kapitel 8: Der Mann, der zuviel wusste – Hitchcock (2 und) 3: THE LODGER – A STORY OF THE LONDON FOG/ DER MIETER – EINE GESCHICHTE AUS DEM LONDONER NEBEL (1927)

Hitchcocks eigentlich zweite Regiearbeit THE MOUNTAIN EAGLE (1926) ist leider verschollen, nur ein paar Standfotos sind erhalten geblieben, unter diesen ein sehr grotesk wirkendes Würgerbild. Interessant wäre der Film sicherlich schon alleine dadurch, dass Fritz-Lang-Veteran Bernhard Goetzke eine der Hauptrollen spielt, aber Hitchcock selbst bezeichnete seinen dritten Film THE LODGER als den „ersten richtigen Hitchcock-Film“, insofern ist der Verlust von THE MOUNTAIN EAGLE vielleicht verschmerzbar.

THE LODGER ist perfekt komponiert, szenenweise eindeutig von Leo Perutz‘ Roman „Zwischen neun und neun“ beeinflusst.

Warum sieht man in Filmen eigentlich so selten Lichtreflexe von vorüberfahrenden Autos in Wohnungen? Entweder, weil die Wohnungsszenen in Studios gefilmt werden, und es dort gar keine vorbeifahrenden Autos gibt, oder, wenn die Wohnungen echt sind, weil sämtliches Licht in ihnen kontrolliert und gesetzt wurde, sodass eben solche ungeplanten Reflexe nicht entstehen können. Ich denke also, dass Hitchcock die Lichtreflexe in der Wohnung künstlich erzeugt hat. Was ein ganz erstaunlicher Aufwand wäre, nur, um eine bestimmte visuelle Atmosphäre zu erzeugen – aber das passt zu einem Regisseur, der vorher als Art Director gearbeitet hat, und der einen Glasboden verwendet, um in diesem Stummfilm Schritte wenn schon nicht hörbar, dann eben sichtbar zu machen.

Was ist das überhaupt für eine seltsame Wohnung, die der Lodger da bezieht? Mindestens eines der Wandgemälde ist eindeutig sadomasochistischer Natur. Was wollen die Vermieter ihren Mietern dadurch zu verstehen geben? „Quälen von Frauen ist bei uns willkommen, mit unserer Tochter machen wir das auch so.“ Hoffentlich nicht. Jedenfalls kein Wunder, dass man diese Bilder dann zur Wand dreht.

Aus heutiger Perspektive betrachtet wirkt der Polizist mit seinem fast schwarzen Lippenstift irgendwie pervers (auch in seiner Ruppigkeit im Umgang mit dem Mädchen), und Ivor Novello viel zu hübsch, um ein Mörder sein zu können, aber das war seinerzeit anders. Gustav Diessl als Jack the Ripper in DIE BÜCHSE DER PANDORA (1929) war ebenfalls sehr attraktiv, Conrad Veidt in DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920) bewegte sich zwar skurril, hatte aber ebenfalls ein eindrucksvolles Antlitz. Mörder durften schön sein, das verlieh dem Ermordetwerden einen morbiden Reiz, als wäre eine Lustmord nicht nur etwas, bei dem der Mörder, sondern auch das Opfer Lust empfindet.

Der Lodger ist allerdings, obwohl unschuldig, schon auch ein merkwürdiger Bursche. Warum grinst er diabolisch, wenn er sich Butter aufs Brot schmiert? Und warum geht er dem Polizisten wie ein Würger an die Gurgel, anstatt sich einfach festnehmen zu lassen, bis erwiesen wurde, dass das erste Mordopfer tatsächlich seine Schwester war? Er ist hübsch, und – wie sich am Ende herausstellt – auch reich und womöglich adelig, aber ob das Mädchen bei ihm wirklich in guten Händen ist, dafür würde ich meine eigene nicht ins Feuer legen.

Hitchcock jedenfalls (der sich auch eine recht gewagte Entkleidungs- und Badeszene wieder nicht versagt hat) hebt sich eine letzte Anzüglichkeit für die Schlussminute auf: „Heute Nacht blonde Locken“, blinkt die den Film auch eingeleitet habende Reklame durch das Fenster, vor dem die beiden Baldvermählten sich küssen, und diesmal ist damit weder ein Mord noch ein Varieté gemeint.

Ein Rätsel, das THE LODGER überhaupt nicht auflöst, ist, warum der Mörder sich selbst als „Avenger“ bezeichnet. Wen rächt er, und warum signiert er seine Untaten? Vielleicht ist dazu in der Romanvorlage von Marie Belloc Lowndes mehr zu erfahren, Hitchcock jedenfalls lässt das völlig offen. Jedenfalls scheinen die Opfer nicht erschossen zu werden, weshalb die in der Tasche des Lodgers gefundene Pistole ihn eigentlich nicht wirklich belasten dürfte.

Hitchcock ist hier schon vollständig bei sich: Wie die meisten seiner Filme wirkt THE LODGER realistisch, ist es aber überhaupt nicht. Alles ist vollendet künstlich: Die sich auf nichts gründende Empörung der Menge am Ende, das „Spurenlesen“ des Polizisten, der in einem Fußabdruck Details des Films rekapituliert, der erste Auftritt des Lodgers, später das seine Augen zusätzlich betonende Muster des Fensterkreuzes auf seinem Gesicht, der wunderbare Glasfußboden, die überdeutlich blonden Wandgemälde, und selbst das geisterhaft huschende Licht in den Zimmern.



Addendum:

Ich habe jetzt endlich den 1913 erschienenen Roman von Marie Belloc Lowndes gelesen. Auf Deutsch heißt der (im Diogenes Verlag) „Jack the Ripper“, was nicht wirklich Sinn ergibt, denn die Geschichte ist zwar klar an den Ripper-Fall angelehnt, aber der Mörder signiert mit „The Avenger/Der Rächer“, ist also ein anderer, und der Name „Jack the Ripper“ wird – im Gegensatz zu den Namen „Jekyll“ und „Hyde“ – nirgendwo im Buch erwähnt.

Erwähnenswert:

  • Ein Untermieter kann sich schlechterdings anonym einmieten. Hitchcock hat auf den Namen dieses spezifischen Mieters aber schlauerweise verzichtet, weil der etwas albern ist: Im Buch nennt er sich „Sleuth“, was für „Wahrheit“, „Spürhund“ oder „Schnüffler“ steht, und viel zu sehr ein nom de guerre ist, der auf seine eigentliche Tätigkeit verweist.
  • Um ihn als Sonderling zu charakterisieren, hat er einen Ekel vor Fleisch, ist also Vegetarier. Ich halte ihn allerdings besonders als Vegetarier für einen Sonderling, denn er lässt sich durchaus mal zu einem „Hühnchen“ und zu „Fisch“ breitschlagen. Auf mich wirkt er eher wie jemand, der allenfalls Schweinefleisch ablehnt, ein heimlicher Moslem also vielleicht. Womöglich hat er seinen Namen gar nicht mit „Mister Sleuth“, sondern mit „Mister Suez“ angegeben, und lispelt. Er neigt nämlich zum haspelnden Sprechen.
  • Es gibt eine ausführliche Szene im „Schwarzen Museum“ von Scotland Yard, das die Autorin offensichtlich besucht hat.
  • Die Schilderung der Tochter Daisy als hübscher Person, die ihrem Vater gerne aus der Zeitung vorliest, aber bei den Worten „Theorie“ und „Nomade“ stockt, weil sie die offensichtlich noch nie gehört hat, hätte ich bereits ehrabschneidend gefunden, wenn ein Mann den Roman geschrieben hätte, aber ich finde es geradezu unverständlich, dass die Tochter einer Feministin diesen Roman geschrieben hat. Warum hat sie aus Daisy denn keine kluge, emanzipierte junge Frau gemacht, sondern eine, die nur dadurch glänzt, in einem geblümten Kleid besonders gut auszusehen?
  • Der Roman ist stellenweise von fast bestürzender Naivität. Wir erfahren so gut wie nichts über die Morde, den Tathergang, die Opfer, auch aus der Presse nicht. Wir können uns eigentlich also gar kein richtiges Bild machen. In einem Schrank kippt ein Gläschen roter Tinte um, die Hauptfigur (die Vermieterin) erschrickt, weil sie das mit Blut verwechselt. Auf mich erweckt das den Eindruck, weder diese Vermieterin noch die Autorin hätten jemals echtes Blut zu sehen bekommen. Auch wird immer wieder ein Klopfen an der Haustür als „Cliffhanger“ an das Ende eines Kapitels gestellt. Einmal war es der neue Untermieter, der klopfte, einmal der Postbote, und einmal ein Freund der Familie. Spannung, die gar keine ist, und die restlos verpufft. Und wenn einer sich mit einem Schnurrbart verkleidet hat, wird er prompt überhaupt nicht erkannt.
  • Dafür gibt es eine hochinteressante psychologische Dimension, die im Film fehlt. Die Hauptfigur des Romans ist die alte Mrs. Bunting, die Vermieterin. Sie ist anfangs die Einzige, die den Lodger verdächtigt, der „Rächer“ zu sein, weil sie die Einzige ist, die mitbekommt, dass er sich nachts immer aus dem Haus schleicht. Dennoch beschließt sie an einer Stelle, ihn zu schützen, selbst wenn er der Mörder sein sollte. Sie hat dabei eine Gemengelage von Motiven: Erstens ist sie Mister Sleuth dankbar, dass er sie und ihren Mann durch seine Mietzahlungen im wahrsten Sinne des Wortes vorm Hungertuch gerettet hat und weiterhin rettet. Zweitens scheint sie sich ein kleines Bisschen in den 40jährigen Mieter verknallt zu haben. Das wird nie deutlich ausgesprochen, aber sie fühlt sich eigentümlich wohl in seiner Gegenwart und achtet sehr eifersüchtig darauf, dass sie allein ihn bedient, niemand sonst. Drittens gibt es eine Stelle in dem Buch, in der Mrs. Bunting denkt, Frauen sind eher Individuen, und nicht so sehr Staatsbürger (anders als die Männer). Sie sind also nicht so verantwortlich für das Staatswohl, sondern eher nur fürs heimische Wohl. Das ist eine bizarre Perspektive, die fast schon feministisch sein könnte, wenn sie nicht aber auch etwas Häuslich-Devotes und etwas von Aus-allem-Komplizierten-halte-ich-mich-raus hätte.
  • Die Mordserie des „Rächers“ ist umfangreicher als die Jack the Rippers. Er begeht allein neun Morde in London, davor aber auch schon jeweils zwei in Leipzig (!) und Liverpool. Bei Jack the Ripper waren es insgesamt „nur“ fünf. („Der Rächer“ scheint es auf Städte abgesehen zu haben, die mit einem L beginnen. Weshalb? Weil der Nachname der Autorin auch mit einem L beginnt?)
  • Mister Sleuth verbringt den ganzen Tag mit manischem Bibelstudium, was ihn in meinen Augen zu einem religiösen Fanatiker macht. Er liest wirklich nichts außer Bibel und Bibelkonkordanz, nicht einmal Zeitungen (was ich sehr seltsam finde angesichts seines Anliegens). Er kommentiert die Bibel mit seiner roten Tinte und zitiert Passagen über „Rache“, was ihn natürlich besonders verdächtig macht, der „Rächer“ zu sein, und er sagt laut Bibelpassagen auf. Er spinnt nicht nur ein bisschen.
  • Im Film weggelassen wurde eine lange Passage, in der Mrs. Bunting sich zu einer Zeugenbefragung im Fall „Rächer“ einschleicht. Dort treten Figuren auf mit seltsam sprechenden Namen wie „Mr. Cannot“ und „Dr. Gaunt“, die dem Roman zusammen mit „Mr. Sleuth“ beinahe etwas Surrealistisches oder sogar Symbolistisches verleihen. Später gibt es noch einen Franzosen namens „Barberoux“, was an „barbe rouge“, also„Rotbart“, erinnert.
  • In den Zeitungen wird ein berühmter Detektiv erwähnt, der aus dem Ruhestand zurückkehrt, um sich in die Ermittlungen einzuschalten. 1913 wird es wohl keinen Leser gegeben haben, der dabei nicht an Sherlock Holmes dachte. Holmes war 1903 nach seinem „Tod“ in den Reichenbachfällen von Arthur Conan Doyle aus dem „Ruhestand“ zurückgeholt worden (und ermittelte weiter bis 1927). Bei dem während der Zeugenbefragung auftauchenden berühmten Schriftsteller könnte es sich um Conan Doyle handeln, muss aber nicht.
  • Das „Finale“ ereignet sich am Eingang zur „Gruselkammer“ von Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett. Es ist aber viel weniger dramatisch als bei Hitchcock, verplätschert eher.
  • Das Ende des Romans ist geradezu schockierend für diejenigen, die nur Hitchcocks Verfilmung kennen (Achtung, Spoileralarm!): Nicht nur ist Mister Sleuth tatsächlich der Mörder, sondern er entkommt sogar! Warum er sich „der Rächer“ nannte, wofür er sich rächte, erfahren wir nie. Auch sein Vermieterpärchen, das bis zuletzt eine schützende Hand über ihn hält, wird nicht belangt. Wie kommt dieses Mitgefühl der Autorin mit einem Massenmörder á là Jack the Ripper und seinen spießigen Herbergsleuten zustande? Weil er nur „betrunkene“ Frauen umbringt, und keine „anständigen“? Äußert sich da ein tiefes Verständnis der konservativen Klasse für ein „Großreinemachen“? Mister Sleuth ist ja ein „Gentleman“, also kein „verkommenes Subjekt“ aus der Hafengegend, dann kann er nachts ruhig Frauen aufschlitzen gehen. Hauptsache, im Haus bleibt alles schön sauber (Mrs. Buntings Reinlichkeit und Putzfimmel werden mehrmals betont). Das und einige im Roman verstreute abfällige Bemerkungen über „Ausländer“ und „Radikale“ finde ich allerdings tatsächlich richtig gruselig.
  • Ein Rätsel bleibt: Die englischsprachige Wikipedia schreibt in ihrer Inhaltsangabe, Mister Sleuth werde fünf Tage später gefunden, ertrunken in einem Fluss. In meiner deutschsprachigen Ausgabe fehlt dafür jegliches Anzeichen, nur sein Messer und die Gummisohlenschuhe werden gefunden, aber nicht an einem Flussufer, sondern im Regent’s Park. Irrt sich die englische Wikipedia? Oder weicht die deutsche Übersetzung tatsächlich so stark vom Original ab? Aber warum? Warum den Regent’s Park hinzudichten? Bei einem Roman, dessen erste Verfilmung das Ende regelrecht ins Gegenteil verkehrt hat, scheint alles denk- und nichts lösbar.   

Das kostenlose Kapitel 7: Mindestens fünfzehn Filme von Sion Sono: 1. HEYA/THE ROOM (1992)

Was ich von Sion Sono halten soll, ist mir überhaupt noch nicht klar. Bislang habe ich erst drei Filme von ihm gesehen, den ersten (SUICIDE CIRCLE, auch: SUICIDE CLUB, von 2001) fand ich großartig, den zweiten (STRANGE CIRCUS, 2005) maniriert, angestrengt, weil um das Verbergen seiner eigenen Hohlheit bemüht, und der dritte (LOVE EXPOSURE, 2008) hat mich dermaßen gelangweilt, dass ich es bislang noch gar nicht geschafft habe, ihn mir in voller Länge (fast vier Stunden) anzusehen.

Zeit also für eine eingehendere Betrachtung, denn Sion Sono ist längst zum Kritikerliebling und Festivalmatador avanciert (was noch nicht unbedingt für ihn spricht, schon mehrmals sind Cineasten Blendgranaten auf den Leim gegangen), hat sich diesen Ruf aber teilweise schon wieder verspielt durch Filme (wie z.B. TOKYO TRIBE, 2014), die einfach zu sehr dem Genre-Pulp verhaftet sind, um vom typischen Festivalisten noch beklatscht werden zu können. Genau das macht ihn für mich dann doch wieder interessant. Es könnte sich bei ihm um einen verkopfteren/unentspannteren Takashi Miike handeln (dessen qualitativ explosiver Output im Gegenwartskino allerdings unerreicht bleiben dürfte, eine so ausführlich wie nur mögliche Miike-Serie im Filmbetrachter wird folgen, ab Kapitel 60.)

Genug der Vorrede, hinein in THE ROOM, den vierten der neun Langfilme, die Sono bereits vor seinem internationalen Durchbruch mit SUICIDE CIRCLE gedreht hat, die aber allesamt außerhalb Asiens äußerst schwierig aufzutreiben sind.

Alles an THE ROOM dauert viel zu lange. Farbe beim Trocknen zuzusehen (jener berühmte, durch Arthur Penns NIGHT MOVES/DIE HEISSE SPUR 1975 kolportierte Vergleich mit den Filmen Eric Rohmers) wäre Dynamit dagegen, deshalb hat der Film auch keine Farben, er ist schwarzweiß. Sion Sono zwingt uns anfangs, das langsame Wandern von Wolken am linken Bildrand als das Spannendste wahrzunehmen, das sich ereignet. Er zwingt uns, nach etwas Ereignisähnlichem geradezu zu fahnden. Später, wenn wir uns an diesen Rhythmus gewöhnt haben, überfordert er uns geradezu mit Stadtansichten aus einer fahrenden Bahn.

Nichtsdestotrotz handelt es sich um einen Krimi, um einen Yakuzafilm. „Battles without Horror and Velocity“ sozusagen. (Eine Serie über die BATTLES WITHOUT HONOR AND HUMANITY-Yakuzafilm-Reihe wird es auch noch geben im Filmbetrachter, aber erst ab Kapitel 180.)

Mir gefällt die Art und Weise, wie HEYA/THE ROOM Sinn ergibt. Der Mieter gibt eine unfassbar lange Beschreibung, was er von einem Zimmer erwartet. Anschließend fahren wir unfassbar weit, um einen Raum zu finden, der diesen Anforderungen gerecht werden kann. Der ist es nicht. Also fahren wir weiter. Stoisch. Der ist es aber auch nicht. Eine andere Art von Fahrt schließt sich an. Und immer so weiter. Auf der Tonspur ist von Anfang an mehr los als in den Bildern. Dennoch ist es gar nicht unspannend. Road Movies haben immer die Sensation wechselnder Orte zu bieten. Alles flüstert. Der Mieter spielt ein japanisches Bilboquet namens Kendama, das mir so in dieser Art vor diesem Film gar nicht geläufig war, es funktioniert zweiseitig, ich habe dagegen ein klassisches französisches zuhause, eins, mit dem man mit dem Zapfen das Loch treffen muss, wie es auch in Maupassants Roman „Bel Ami“ von den Angestellten der Zeitung gespielt wird. Oh, schweife ich etwa ab? HEYA/THE ROOM bewirkt dies durchaus.

Bei der Szene mit dem Sterbenden in der Sonne erwartet man, dass der Killer zur Pistole zurückgehen wird und mit ihr den Sterbenden erschießt. So hätten es Tarantino oder Takeshi Kitano gemacht, und man hätte es in seiner Langsamkeit als lakonischen Humor gewertet. Bei Sono bleibt die Pistole vergessen. Es fällt auch (noch) kein Schuss. Stattdessen wird geraucht.

Während der Autofahrt macht man sich Gedanken. Werden sie im Kreis fahren? Wozu stehen all die Menschen an, die da anstehen? Was mag es da geben?

Eine geblümte Glastür mutet wie ein Spezialeffekt an, ist aber keiner.

„Your eyes resemble the room I’m looking for“ (ich habe den Film mit englischen Untertiteln gesehen) ist ein grandioser Satz. Plötzlich ist dieser langsamste aller Yakuzafilme beinahe so etwas wie ein Liebesfilm. Beinahe.

Das Ende ist erstaunlich pointiert. Deshalb verrate ich es nicht.

Dennoch dürfte es schwierig werden, die heutige Smartphonejugend zum Konsum solcher Werke zu bewegen.

Aber manchmal denke ich mir: Was, wenn sie eines Tages den ganzen audiovisuell genormten Spektakelkram mit Superheldenteams oder Dystopien besiegenden Jugendlichen oder niedlichen, singenden Animationsfiguren oder pseudo-mittelalterlichen, langhaarigen Schwertträgern in Grau-, Braun-, und Grüntönen satt bekommen und stattdessen mal etwas vollkommen Anderes wollen? Etwas, dessen Gestik und Mimik und Look sie nicht schon tausendmal in Variationen vorgesetzt bekamen? Dann könnte die Stunde schlagen von sowas wie HEYA/THE ROOM.

Vielleicht aber auch nicht, und stattdessen werden auch die Superheldenteams noch anfangen zu singen.

Das kostenlose Kapitel 6: Blog-danovich

In der sehr unterhaltsamen Dokumentation HITCHCOCK – TRUFFAUT (2015) musste ich einmal mehr in meinem Leben über etwas den Kopf schütteln, was der Regisseur und Filmkundler Peter Bogdanovich dort mit seiner typisch bierernsten Miene behauptet, nämlich: dass das Ins-Kino-Gehen zum ersten Mal bei PSYCHO (1960) gefährlich gewesen sei.

Das ist natürlich ein hübsches Kompliment für PSYCHO, der unter allen Meisterwerken Hitchcocks neben MARNIE (1964) und vielleicht noch SPELLBOUND (1945) auch mein persönlicher Favorit ist, aber in erster Linie ist es eine Aufwertung, die Bogdanovich an sich selbst vornimmt, denn er war bei der Kinopremiere von PSYCHO dabei und will natürlich genau das aufzeigen: Er selbst als Dreh- und Angelpunkt der Filmgeschichte.

Mir fielen spontan zwei Gegenbeispiele ein, die schon vor PSYCHO richtig gefährliches Kino waren, und Filmkundigeren als mir mögen noch dutzende weiterer Beispiele einfallen.

Die beiden, die mir spontan in den Sinn kamen, sind DAS CABINET DES DR. CALIGARI von 1920 (in diesem Jahr, in dem Der Filmbetrachter startet, also genau 100 Jahre alt), in dem den Zuschauern jeglicher Boden unter den Füßen weggezogen wird, was ist Traum?, was ist Wahn?, was ist Wirklichkeit?, wer ist der Mörder, aber ist der Mörder ein Mörder oder der, der ihn lenkt?, wem können wir noch trauen?, was für eine bizarre Welt ist dies überhaupt?, sodass man eigentlich nur noch zutiefst verunsichert, regelrecht taumelnd aus dem Kino kommen konnte, sowie SHICHININ NO SAMURAI/DIE SIEBEN SAMURAI von 1954, der die Zuschauer viel mehr als PSYCHO durch Mitleid hindurchzwingt, man mag diese Samurai, man identifiziert sich mit ihnen, und dann mutet der Film einem in einer dreieinhalbstündigen Tour de Force zu, dass diese Identifikationsfiguren einer Angriffswelle nach der nächsten ausgesetzt werden, wir sehen ihnen beim Kämpfen zu, wir sehen ihnen beim Überleben zu, wir sehen ihnen aber auch beim Sterben zu, wir sind hinterher schweißgebadet, sind mit viel mehr unterschiedlichen Emotionen konfrontiert worden als in PSYCHO, in dem wir lediglich Schocks zu überstehen haben, mit den SAMURAI aber haben wir gelitten und gelacht, haben mit Liebenden gebangt und waren vor Verzweifelten erschrocken, wir wurden bis zum Zerreißen gespannt und sind wie ein Pfeil zwischen die Hufe galoppierender Pferde geschossen worden, am Ende hinterfragen wir den Sinn von allem, sind erschöpft und bereichert, gleichzeitig unglücklich und glücklich, der Film hat uns in jedem denkbaren Wortsinne mitgenommen. Dass man hinterher nicht mehr ganz derselbe ist – auch das ist eine Gefahr, der gute Filme uns aussetzen können.

Und was ist mit Bunuels UN CHIEN ANDALOU (1929) und Dreyers VAMPYR (1932), die beide ausgeklügelte Aneinanderreihungen von Verunsicherungsmomenten darstellen?

Vielleicht ist Bogdanovichs Perspektive immer nur auf amerikanische Filme beschränkt, und deshalb wirkt er so oft ungenau, wenn er über Filmgeschichte an sich spricht. Er kultiviert den müden Blick von jemandem, der alles gesehen hat, und alles weiß, aber selbst wenn ihm nur alles Amerikanische vertraut wäre, müssten ihm William Castles Geisterbahnstrategien und auch die 3-D-Horrorfilme der 50er Jahre durchaus ein Begriff sein, sicherlich harmlose Spielereien, aber Kino kann ohnehin nur auf zwei Arten „gefährlich“ werden: Entweder stirbt man (wie es einem William Castle versprach) vor Schreck im Kinositz, oder man geht zutiefst verstört nach Hause und leidet lebenslang an Alpträumen, und das haben Bunuel und Wiene und Murnau und die Regisseure von L’INFERNO (1911) und auch Bergman und sicherlich auch noch weitere bereits vor PSYCHO betrieben.


Erstes Addendum:

In der 2017er-Dokumentation 78/52 – DIE LETZTEN GEHEIMNISSE VON PSYCHO wiederholt Bogdanovich seine Behauptung noch einmal. Diesmal wird ihm immerhin insofern widersprochen, dass auf die Zugeinfahrt bei den Brüdern Lumière verwiesen wird, die die Menschen in Massenpanik aus dem Kino trieb, weil sie Angst hatten, von dem Zug überfahren zu werden. Das ist aber noch Kino als Jahrmarktsattraktion, nicht als ausgefeilter Film.

Mir sind aber inzwischen noch zwei weitere Beispiele in den Sinn gekommen.

Der wahnwitzige japanische Irrenhaus-Film KUROTTA IPPEJI/A PAGE OF MADNESS von 1926 bietet keine Figur an, mit der man sich identifizieren könnte, ohne depressiv zu werden oder bis ins Mark zu erschrecken, und legt es besonders zu Beginn geradezu darauf an, Epilepsie auszulösen mit seinen wilden Schnitten und rotierenden Spiralen.

Und wie sicher, wohl und ungefährdet mag man sich 1932 im Kino gefühlt haben, als man FREAKS sah? Ein Film, bei dem sogar die Grenzen zwischen „das ist nur gespielt“ und „das ist echt“ aufgehoben sind, die ein Hitchcock niemals überschritten hätte.


Zweites Addendum:

Mittlerweile ist mir aufgefallen, dass die bahnbrechende Struktur von PSYCHO mit der eliminierten Heldin gar nicht so neuartig ist, sondern exakt dem Verlauf von NOSFERATU (1922) und seiner beiden Nachfolger als Verfilmungen desselben Romans DRACULA (1931) und HORROR OF DRACULA (1958) (siehe Kapitel 12) entspricht. Am Anfang denkt man bei diesen Filmen ja auch, der auf das Schloss reisende Makler sei die Hauptfigur, bis er dann einfach nur zum Opfer wird und es seinem Umfeld obliegt, den Vampir zur Strecke zu bringen. (Hierbei ist erwähnenswert, dass besagten Makler in diesen drei Filmen jeweils ein anderes Schicksal erwartet: In NOSFERATU wird er zum Siechen, in DRACULA zu Draculas Gehilfen (weil hier die Romanfiguren Harker und Renfield zusammengeschmolzen wurden), in HORROR OF DRACULA stirbt er einfach nur wie Marion Crane in PSYCHO. In Werner Herzogs NOSFERATU-Remake von 1979 wiederum wird er dann sogar zum Überträger – im aktuellen Sprachgebrauch: super spreader – der Vampirseuche.)

Neu an PSYCHO ist allerdings auf jeden Fall, dass Schlossherr und Vampir zuerst nicht ein und dieselbe Person zu sein scheinen, weil man noch nicht wissen kann, dass Norman seine Mutter nur verkörpert.

Das kostenlose Kapitel 5: Die zehn Filme von Alain Robbe-Grillet: Eins: L‘ IMMORTELLE/DER UNSTERBLICHE (1963)

Ich finde diesen Film, der ein Experiment der Widersprüchlichkeiten, gewollten Anschnittfehler, Paradoxien und Unbeweisbarkeiten zu sein scheint, erstaunlich kohärent. Mann trifft Frau, begehrt Frau, sie entzieht sich halb, halb gibt sie sich hin, sie entschwindet, stirbt oder hat niemals existiert, er sucht sie, er findet sie in anderen, er findet sie selbst, doch nie kann er sich sicher sein. Dies ist die Geschichte jeder Liebe, die nicht ganz und gar konformistisch ist.

Die Frau sagt, sie wohnt in Vifakishlemezjitokayoliedokuz und erklärt sich bereit, dem Mann diese Adresse aufzuschreiben. Sie schreibt in seinen Taschenkalender, dann reißt sie die Seite heraus und wirft sie in den Wald. Als der Mann Wochen später – alle anderen Fährten führten ins Nichts – diesen Zettel sucht, findet er ihn, aber er ist völlig unbeschriftet. Das Datum dieser verwaisten Kalenderseite ist (Verschwörungstheoretiker aufgemerkt) der Dreiundzwanzigste.

Ich frage mich, ob es möglich ist, einen heterosexuell erotischen Film aus der Perspektive eines Mannes zu inszenieren – ohne eine einzige Frau. Robbe-Grillet bringt es fertig, die Atmosphäre dermaßen aufzuladen, dass man kein Fenstergitter mehr sehen kann, ohne dahinter schöne Sklavinnen zu wittern, die den perversen Gelüsten ihrer Herren vollkommen ausgeliefert sind. Man muss kein praktizierender Sadomasochist sein, um sich in Robbe-Grillets Welt zurechtzufinden, aber es hilft, wenn man genügend Fantasie besitzt, sich in Szenarien der lebensbedrohenden Inbesitznahme zumindest einfühlen zu können.

Natürlich ist es angenehm für den Anfänger in diesen Dingen, die Bauchtänzerin bei ihren pelvischen Verrichtungen beobachten zu können, Francoise Brion beim Angezogensein, beim Halbentkleidetsein, beim Gehen, beim Atmen, beim Duften zuzuschauen. Sowie den anderen Frauen, die dann ihren Platz einnehmen, und unsere Sehnsucht ebenfalls tragen wie etwas, das zwar einer anderen auf den Leib geschneidert wurde, das aber immerhin halbwegs passt. Nicht ganz nebenbei bemerkt: „L’Immortelle“ heißt „die Unsterbliche“, nicht „der Unsterbliche“, wie der deutsche Verleihtitel behauptet. „Der Unsterbliche“ ergibt in diesem Film gar keinen Sinn, ich fürchte, die deutschen Verleiher haben ihn nicht verstanden. Es geht ums Ewigweibliche, nicht ums Ewigmännliche.

Nichts Antikes ist in L’IMMORTELLE authentisch. Alles scheint verbilligter Ramsch zu sein. Gleichzeitig ist alles im Verfall begriffen. Paläste sind ausgebrannte Bühnen, Schiffe liegen versunken im Hafen, Moscheen zerbröseln. Es ist beinahe dieselbe Sightseeingtour durch Istanbul, auf die uns auch das im selben Jahr gedrehte zweite James-Bond-Abenteuer FROM RUSSIA WITH LOVE/LIEBESGRÜSSE AUS MOSKAU mitnimmt, aber was dort pittoresk und gefahrvoll aufwühlend ist, ist hier nur noch morbide. Dort ist die männliche Hauptfigur ein viriler Tausendsassa, hier ist er nicht nur schläfrig, sondern geradezu somnambul. Hätte man Bond sehr, sehr viele Downer in den Martini geschüttelt, würde er vielleicht so triefäugig durch die Stadt schlurfen und sich andauernd selbst begegnen wie Robbe-Grillets Protagonist. Aber beide Filme ergänzen einander, auch durch Farbe und Schwarz-Weiß. Zusammen ergeben sie ein kompletteres Bild davon, wie die Unsterblichkeit beschaffen ist.

Übrigens sind phallische Grabsteine eine faszinierende Idee. Als würden die Toten uns Lebenden ein letztes Bedürfnis entgegenrecken. Aber wir erfahren in L‘IMMORTELLE, dass unter diesen Steinen niemand liegt, und dass sie später zum Straßenbau verwendet werden, sodass wir alle auf ihnen herumtrampeln, als könnten wir Begehren nur respektieren, wenn es unser eigenes ist.

Das kostenlose Kapitel 4: Das Ende von CARTOUCHE

Der Mantel-und-Degen-Film CARTOUCHE/CARTOUCHE, DER BANDIT (1962, Regie: Philippe de Broca) betritt in seiner Schlussphase völliges Neuland.

Bis dahin alles wie gehabt: Jean-Paul Belmondo ist – in der bewährten Tradition von Gérard Philipe als FANFAN LE TULIPE/FANFAN, DER HUSAR (1952) – ein frecher Tausendsassa, er prügelt, schwingt und lacht sich durch den Film, trotzt den Obrigkeiten, ergaunert sich ein Vermögen, scheint unbezwingbar. Sogar, dass er seine schöne Geliebte Venus (schmollmündig wie eine dunkle Bardot: Claudia Cardinale) mit anderen Frauen betrügt – was ein altmodischer romantischer Held vor den 1960ern niemals getan hätte – kann man ihm nicht übelnehmen, weil auch Venus es ihm nicht wirklich übelnimmt, sie schmollt dazu und schweigt.

Aber dann passiert etwas Eigentümliches. Einer von Cartouches Kameraden wird gefangen genommen und gefoltert. Selbstverständlich kann er befreit werden und ist sowohl körperlich als auch geistig im Großen und Ganzen hinterher wieder der Alte. Bis auf ein einziges eindrückliches Detail: Seine Haare sind in der kurzen Haft schlohweiß geworden. Den Zuschauer beschleicht der Verdacht, dass ihm während seiner Haft noch Schlimmeres widerfahren ist als die Wasserfolter, deren Zeugen wir wurden, etwas, das sich außerhalb der Zeugenschaft der Kamera ereignete. Die weißen Haare verändern plötzlich alles, denn sie besagen: Das Tun unseres Helden Cartouche zeitigt Konsequenzen, die nicht mehr ausheilen. Normalerweise bedeutet eine Gefangennahme für den Typus des lachenden Abenteurers, sei er nun von Douglas Fairbanks, Errol Flynn oder Burt Lancaster verkörpert, immer nur eines: Er muss halt einen Weg finden, wieder zu entkommen. Diesmal jedoch hat die Gefangennahme etwas eingebracht, das man weiter mit sich herumträgt, dem man nie mehr entwischen kann. Der Film hat plötzlich einen düstereren, verhängnisvolleren Tonfall, die weißen Haare leuchten in ihm wie ein Menetekel.

Folgerichtig ist es als nächstes Cartouche selbst, der gefangen genommen wird. Und wir ahnen: Es wird ihm wirklich an den Kragen gehen, wenn der Befreiungsversuch misslingt. Venus führt diesen Befreiungsversuch an, schmollend überlistet sie die Soldaten, schießt und fechtet ihren untreuen Cartouche frei. Und wird dabei erschossen.

Etwas zerbricht in Cartouche, mit einem noch lauteren Geräusch als nur einem Musketenknall.

Er bahrt die tote Venus in einer Prunkkutsche auf, behängt sie mit allem Schmuck und Kostbarkeiten, denen er in seiner Karriere als Räuberhauptmann habhaft werden konnte, und versenkt die Kutsche mitsamt der schönen Toten in einem See. Er nimmt Abschied von allem, was ihm jemals etwas bedeutet hat.

Nun kommt es zu folgendem denkwürdigem Dialog (zitiert nach der deutschen Synchronfassung):

Freund: „Und was wird jetzt?“

Cartouche: „Jetzt werde ich Rache nehmen.“

Freund: „Und dann?“

Cartouche: „Dann werde ich dort enden, wo ich enden muss.“

Anderer Freund: „Du meinst … beim Henker.“

Cartouche: „Ja. Hoffentlich geht’s schnell.“

Dann reiten die Banditen davon, in einen Untergang mit Ansage, das Wort „Fin“ erscheint auf dem Bildschirm, dramatisch musikuntermalt und mit einer hoffnungsloseren Bedeutung als gewöhnlich.

Der lachende Held hat also aufgehört zu lachen. Aus der Komödie (stellenweise fast Groteske) ist ein Drama geworden, eine Tragödie geradezu. Das nimmt das berühmte Ende von BUTCH CASSIDY & THE SUNDANCE KID/ZWEI BANDITEN (sieben Jahre später) bereits vorweg. Es beeinflusste sicherlich auch die außergewöhnlich vielschichtigen Musketier-Filme, die Richard Lester in den 1970ern drehte, in denen ebenfalls die Komödie stellenweise zur grimmigen Härte gerinnt.

Man stelle sich Douglas Fairbanks‘ Dieb von Bagdad vor, wie er, von Pfeilen durchbohrt, mit seinem fliegenden Teppich abstürzt.

Errol Flynns Robin Hood, dessen Kopf im Schlussbild über den Richtplatz rollt.

Oder den Roten Korsaren Lancaster, mit seinem Schiff versinkend und ertrinkend.

Cartouche macht uns das vor, ohne es explizit im Bild zu zeigen, und antizipiert dadurch jenen anderen charismatischen Rebellenhauptmann Che Guevara, der Cartouche um nur noch fünf Jahre überlebte.

Das kostenlose Kapitel 3: Der Mann, der zuviel wusste – Hitchcock 1: THE PLEASURE GARDEN/ IRRGARTEN DER LEIDENSCHAFT (1925)

Hitchcocks unter anderem in München (und Italien, wo es sehr abenteuerlich wurde, wie Hitchcock erzählt in Truffauts Buch „Wie haben sie das gemacht, Mister Hitchcock?“) gedrehtes Debüt beginnt furios: Die unterschiedlichen Reaktionen der Theaterbesucher sind wunderbar karikaturesk eingefangen, der erste Hitchcocksche Spezialeffekt lässt auch nicht lange auf sich warten: Aus der Unschärfe eines Kurzsichtigen werden durch ein Fernglas in den Fokus gerückte „scharfe“ Beine. Die dargebotenen Tänze sehen etwas läppisch aus, aber Stummfilme im Musikmilieu haben in dieser Hinsicht ohnehin ein Manko.

Der Film wird nach dem dynamischen Beginn sehr melodramatisch und in seiner Vorhersagbarkeit etwas zäh, wobei ich die Wandlung der anfangs sehr garboesken Patsy zur naiven, aufopferungsvollen Unschuld sogar etwas unglaubhaft finde.

Toll jedoch, wie Hitchcock subtil dafür sorgt, dass man ihren Verehrer Levet (dessen Name bei Truffaut ständig falsch geschrieben wird, wie Truffaut auch in der Inhaltsangabe den Mord an der Eingeborenen „verschweigt“) nicht leiden kann. Bei den ersten beiden Kuss-Szenen der zwei wird jeweils der kläffende Hund dazwischengeschnitten, sodass man die Assoziation nicht loswerden kann, Levets Schnauzbart schmeckt nach Hundefell. Und etwas später steht Patsy verloren in einer Gasse, Levet schleicht sich von hinten an sie heran, und spricht sie nicht etwa an, sondern berührt sie fast wie ein Würger an den Schultern, sodass er ihr natürlich einen Heidenschrecken einjagt, den ein umsichtiger Mann leicht hätte vermeiden können.

Im letzten Drittel gibt es einen der eigenartigsten Morde der Filmgeschichte zu bewundern. Die eingeborene, verstoßene Geliebte Levets will nicht mehr leben, sie geht dramatisch ins Wasser, Levet schwimmt ihr hinterher, sie denkt, er will sie retten, aber er ertränkt sie. Das wäre gar nicht mehr nötig gewesen, es ist, als würde man jemanden, der bereits in einen Abgrund stürzt, während des Fallens noch erschießen.

An diesen – im wahrsten Sinne des Wortes – überflüssigen Mord schließt sich Hitchcocks meines Wissens einzige Geisterszene an, durchaus schaurig aufgrund der traurigen Augen der Toten. Die Sequenz danach, in der der rasende Levet mit einem Säbel in der Hand der hilflosen Patsy in ein schmales Gelass nachsteigt, um sie zu töten, ist für die damaligen Zuschauer sicherlich nicht einfach zu ertragen gewesen. Auch wie Levet erschossen wird, ist sehr ungewöhnlich: Der Schuss scheint ihn erst von seinem Wahnsinn zu kurieren, dann erst bemerkt er das Blut aus seinem Körper, bricht zusammen und stirbt. Hier geht Hitchcock schon sehr weit.

Darüberhinaus ist THE PLEASURE GARDEN auffallend sexy. Die beiden hübschen Mädchen, die sich ein Zimmer teilen, entkleiden sich ausführlichst, dauernd werden irgendwelche Strümpfe und Strumpfbänder thematisiert, die Eingeborenengeliebte ist ein sinnlicher Wonneproppen, und selbst die mütterliche Haushälterin hat einen nicht gerade alltäglich voluminösen Busen.

Mord, Morddrohungen, Umnachtung, irregeleitete Liebe und reichlich weibliche Schauwerte im Tänzerinnenmilieu und anderswo – Debütant Hitchcock bietet viel in einer einzigen Stunde, und nährt Hoffnung auf weitere frivole Unterhaltsamkeiten.