Starter Pack: Kapitel ???: Alphamelville 9: LE DEUXIEME SOUFFLE/DER ZWEITE ATEM (1966)

Mitten in den 1960ern noch ein Schwarzweißfilm, das ist schon einmal ungewöhnlich, aber noch ungewöhnlicher ist die Lauflänge für einen Krimi: 145 Minuten! Ein Krimi-Epos! Scorsese hat erzählt, DER ZWEITE ATEM wäre einer seiner Einflüsse auf den mit 209 Minuten ja noch eine Stunde längeren THE IRISHMAN von 2019.

Autor José Giovanni (Dialoge und Romanvorlage) hat sich hiernach, ab 1967, auch selbst als Regisseur etabliert. Markant sein Film IM DRECK VERRECKT (1968), ebenfalls mit Lino Ventura, am bekanntesten aber wahrscheinlich der sich gegen die damals in Frankreich noch praktizierte Todesstrafe richtende ENDSTATION SCHAFOTT (1973) mit Delon und Gabin, sowie der eher harmlose DER RAMMBOCK (1983), wieder mit Ventura.

Die einleitenden Worte des Regisseurs sind süffisant-augenzwinkernd an die Polizei gerichtet.

Das Motto des Films jedoch könnte unversöhnlicher kaum sein: “Mit seiner Geburt ist dem Menschen nur ein einziges Recht gegeben: Die Wahl seines Todes.”

Ein Gefängnisausbruch als symmetrische Anordnung. Drei Mann zwischen Winkeln und Schluchten.

Der hübscheste der drei stirbt schon hier, ganz lautlos, zu Tode gestürzt, wir haben nicht genau gesehen, wie eigentlich.

Völlig ohne Musik läuft der Vorspann über der Flucht. Es steht auch kein Musiker im Vorspann, es wird wohl keine geben.

Lino Venturas Besorgnis beim Aufspringen auf den fahrenden Zug ist nicht nur gut gespielt, sondern auch echt. Ein falscher Tritt, und er landet wirklich unter den Rädern.

Wortlos trennt sich sein Ausbrecherkamerad von ihm. Gustave “Gu” Minda (Ventura) ist allein.

Nachtclubmusik, aber nicht aus dem Off, sondern eben in einem Nachtclub. Cool Jazz. Mondäne Tänzerinnen. Wir lernen verschiedene Leute an verschiedenen Orten kennen, die erst einmal nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Der Barkellner ist Michel Constantin.

Plötzlich Geballer. Die verschiedenen Leute erschießen sich gegenseitig, Michel Constantin bleibt ungerührt und teilt ordentlich aus.

Paul Meurisse, unvergesslich als Ehemann in Clouzots DIE TEUFLISCHEN von 1955, ist Commissaire Blot. In der deutschen Synchro wird er mit “Guten Abend, Herr Polizeipräsident” angeredet, das ist wirklich zuviel der Ehre. Das kann aber auch Ironie des ihn anredenden Ganoven sein.

Die Bardot wird erwähnt. Die Bardot im Mini.

Der Commissaire monologisiert wie ein Stand-up Comedian und legt den Zeugen ihre Ausflüchte förmlich in den Mund. Starke Figur, gelangweilt von all den dreisten Lügen, die er sich im Laufe seines Lebens schon hat anhören müssen. Ich prognostiziere bereits jetzt: Der stoische Ventura wird es nicht leicht haben, in meinem Herzen mit dem sarkastischen Bullen Meurisse zu konkurrieren.

Die Reaktion des dicklichen Barmanns ist übrigens großartig synchronisiert.

Großartig auch, wie der Commissaire absichtlich die falschen Schlüsse zieht: “Seltsam – als ob sie beim Hinausgehen Richtung Straße geschossen haben.” Ich liebe diesen Typen!

Wir erfahren aus der Zeitung: Gu war mal Staatsfeind Nummer 1. Weil er den “Goldzug” überfallen hat. Reicht tatsächlich ein einziges Ding schon zum Staatsfeind Nummer 1? Braucht man dazu nicht eine Serie von Verbrechen wie Baader/Meinhof, oder in Frankreich Jacques Mesrine, den Vincent Cassel 2008 im Zweiteiler PUBLIC ENEMY NO. 1 verkörpert hat?

Paris wird immer durch denselben Winkel charakterisiert: der Arc de Triomphe von der Seite, nicht von vorn. Es ist dies der Blick von vor dem Restaurant, in dem die Schießerei stattfand. Sozusagen Paris, Seitentreppe.

Michel Constantin bekommt die Taxitür nicht sofort auf. Kein Grund für einen antinervösen Typen wie ihn, die Szene zu schmeißen.

Was ist das für ein Leopardengeräusch, als Manouche (Christine Fabréga) im Leopardenmantel die Treppe raufgeht? Wahrscheinlich die geschlossen werdende Garagentür, aber es klingt eigenartig raubtierhaft.

Da, nach fast 20 Minuten erst, ist Gu wieder.

Sehr originell, wie Gu durch die Tür schmult – aufgrund der Treppe ganz weit unten, in Fußhöhe.

Okay, jetzt kapiere ich es auch: Es ist eine Rainer-Brandt-Synchro, in der die Leute mehr reden als im Original, und mehr Witzchen gerissen werden. Vorhin beim Barmann fand ich das noch lustig, jetzt nervt es schon. Zumal dieser Film gar keine Komödie ist. Einzig der Commissaire darf hier witzig sein. Ich könnte auf Französisch umschalten (ich schaue den Film in der Arte-Mediathek), aber dann habe ich keine Untertitel, und dazu ist mein Französisch nicht sicher genug. Also muss ich die Blödelei ertragen.

Warum die Synchroniseure die Formulierung “Räuber und Schutzmann” erfinden, anstatt das auch im Deutschen viel gebräuchlichere “Räuber und Gendarm” zu verwenden, das in einem französischen Film viel besser passen würde, ist mir ein Rätsel.

Die Leopardenmantelmanouche hat auch Tigerkissen zuhause.

Knallhart werden die beiden Kleinganoven während der Fahrt abgeknallt.

Seltsamer Kamerawinkel, als das Auto genau hinter dem dicken Baum parkt. Soll dadurch der Eindruck erweckt werden, es sei gut versteckt?

Michel Constantins Rolle ist richtig groß. Das war nicht abzusehen, so, wie er als mittlerer von drei Barmännern eingeführt wurde. Sein Rollenname ist Alban.

Gangsterboss Paul Ricci wird gespielt von Raymond Pellegrin. Sein Bruder Jo Ricci wird gespielt von Marcel Bozzuffi, der seinen wohl größten Auftritt 1971 in FRENCH CONNECTION haben wird.

Die Tänzerinnen sind immer für Musik und Langbeinigkeit zuständig, balancieren dabei aber immer Zigarettenhalter in der Hand. Diese Dinger sind sowas von aus der Mode, die werden heute wohl nur noch bei 1920er-Jahre-Themenpartys verwendet.

Die Gangster hören auch beim Kartenspielen gediegenen Cool Jazz. Da ist doch ganz schön viel Musik zu hören in diesem Film. Verantworlich für diesen Jazz ist (darüber klärt mich die IMDB auf) Bernard Gerard.

Der dazukommende Spezialist Orloff wird verkörpert vom kaltäugigen Pierre Zimmer, den wir Filmbetrachter aus Robbe-Grillets L’EDEN ET APRES (1970) kennen, siehe Kapitel 212.

Interessant detaillierte Verhandlung unter Gangstern. Es geht um einen dicken Fisch, einen Lastwagen voller Platin, der gekapert werden soll.

Da ist wieder der dicke Baum, auf den Polizeifotos. Auch der Tatortfotograf hat diese Perspektive eingenommen. Als ob man sich diesem Ort nur aus einer Richtung nähern könnte. Mir kommt das wie ein Rätsel vor, ein Rebus, eine Verschlüsselung, die für etwas ganz anderes steht.

Die kühle Blonde Manouche kommt im Unterschlupf zu Besuch. Gu macht sich fein.

Interessante Beziehung: Gu rechnet mit dem Schlimmsten, gibt sich eigentlich keine Zukunft mehr, aber Manouche möchte eine Zukunft mit diesem Mann und ist bereit, darum zu kämpfen.

Die hübsche dunkelhäutige Colette nimmt die hübsche dunkelhäutige Pianistin in Melvilles nächstem Film LE SAMOURAI/DER EISKALTE ENGEL (1967) vorweg. Es ist aber nicht dieselbe Schauspielerin, Cathy Rosier war in LE SAMOURAI Debütantin.

Schön: “Zwei kleine Würstchen, und werden umgelegt wie die Großen”. Mein Commissaire mal wieder.

Okay, Gu hat nicht nur den “Goldzug” auf dem Kerbholz, sondern zum Beispiel auch den Mord an “Francis dem Krummbeinigen”. Da kommt dann doch einiges zusammen für eine Nummer 1 in den Charts.

Commissaire Blot heizt die Gangsterfehde absichtlich an, durch geschickt gestreute Hochrechnungen. Ihm ist es nur recht, wenn alle aus der Deckung kommen, um sich gegenseitig zu eliminieren.

Die Synchro wechselt mitten im Gespräch zwischen Blot und Luc die Stimmen, es ist offensichtlich eine restaurierte Fassung, sehr schön. In diesen Passagen sind auch keine Witzchen zu befürchten.

Mit sich selbst zufrieden geht Blot die Straße entlang, bleibt kurz stehen und sieht sich weiße Hemden in einem Schaufenster an. Ich kann nicht anders als an den Melville-Filmtitel DER TEUFEL MIT DER WEISSEN WESTE zu denken, aber auch diese kleine Szene kommt mir wie ein Rebus vor. Baum… Hemden … Vielleicht ergeben die Anfangsbuchstaben dieser Worte (auf Französisch natürlich) am Ende ein Lösungswort? Ach, in heutigen Filmen werden solche Szenen, die nicht wichtig sind und nirgendwo hinführen, immer weggeschnitten, “because of timing”, sagt man dann. Ich find’s schade. Ich finde die Szenen, die nirgendwo hinführen, in einem ansonsten plot-orientierten Film (der darf natürlich nicht nur eine Aneinanderreihung von Beliebigkeiten sein) am Allerinteressantesten.

Gus Rache an Jo Ricci in Riccis Bar ist fast wie ein Western inszeniert, wie der Gunfight am O.K. Corral. Wir sehen Gu lange nervös draußen herumfahren/”-reiten”. Die Polizisten sind bereits in Stellung, haben einen Hinterhalt gelegt, mit Schießbefehl. Doch Gu blast das Unternehmen in letzter Sekunde ab. Man hat das kommen sehen, man sah es an Gus Gesicht, und es ist ja nach 52 Minuten auch noch zu früh für einen Showdown-Shootout. Michael Mann hat das, glaube ich, in HEAT (1995) erfunden, die ganz große Schießerei in die Mitte zu legen, und die Schießerei gegen Ende dann eher kleiner und intimer zu machen.

Schön, wie Gu uneitel auf die Frage, ob er etwas (Verdächtiges) gesehen hat, zugibt: “Nein, mir ist schlecht geworden.”

Wo hat Melville eigentlich diese seitlichen Wischblenden her? Sie entsprechen japanischen Schiebetüren, und werden deshalb auch oft in japanischen Filmen verwendet.  Natürlich hat Melville viele japanische Filme gesehen, sonst hätte er keinen eigenen namens LE SAMOURAI gedreht.

Da ist der Arc de Triomphe wieder, links im Bild, fast verdeckt von Bäumen, diesmal frontal. Fast ein Suchbild. Rebusse und Suchbild…

Blot kommt hinter einem Baum hervor. Spult man diese Einstellung zurück, kann man ihn die ganze Zeit schon dort lauern sehen, aber niemandem wäre das aufgefallen, auch mir nicht, der ich hinten vom Triumphbogen abgelenkt war. Und wieder ein Baum.

Guter Dialog: Gu soll sich, um unerkannt nach Marseille zu gelangen, in einem Zirkuswagen als Fakir verkleiden, er findet das lächerlich. “Es ist alles überwacht.” “Na und, was ist daran so Besonderes? Was glaubst du, wie’s beim Ausbruch war?”

Michel Constantin darf lächeln. Sieht man selten, und ist ganz bezaubernd inszeniert, dieses kleine Lächeln.

Gu hat sich verkleidet, wir sehen noch nicht, wie.

Jetzt sehen wir es: Bärtchen + Brille + Hut + Mantel + Aktentasche = Bürohengst.

Er schlägt sich mit dem ÖPNV durch. Das ist wie eine aufreibende Odyssee inszeniert, dabei ist es Alltag für so viele Menschen, auch für mich. Aber nun gut, er muss ständig eine Entdeckung fürchten, das belastet natürlich nervlich. Hitchcock hätte es sich nicht nehmen lassen, ihm eine alte Dame gegenüberzusetzen, die ihn argwöhnisch anstarrt, weil sie jeden argwöhnisch anstarrt.

Zufälligerweise hat nun Orloff, der ja mit Gus Feindesbande, den Riccis, ein großes Ding plant, aber nicht richtig zu diesen gehört, einen gemeinsamen Bekannten mit Gu, und hilft Gu auch zu einem Ausweis. Das wird noch vertrackt.

Über Orloff kommt Gu an das Platinlaster-Ding der Riccis ran. Er will mitmachen, weil nicht sein Gegner Jo Ricci, sondern nur dessen Bruder Paul dahintersteckt, und weil es ihm 20 Millionen (!) einbringen kann. Ganz nebenbei erfahren wir, dass Gus Mitausbrecher von der Polizei in die Enge getrieben wurde und umgekommen ist. Gu ist nun also der einzige Überlebende von den drei Ausbrechern.

Ich habe vorhin Michael Mann erwähnt, mit der großen Schießerei in der Mitte. Jean-Pierre Melville lässt nun das große Ding um den Platinlaster genau in der Mitte des Films steigen…

Der Plan wird ausführlich erläutert und diskutiert. Diese Szene war “wegen Timing” geschnitten worden und ist neu synchronisiert. Ich finde es sehr schade, sowas zu schneiden, den es erhöht die Spannung: Wie wird sich die reale Durchführung vom sauberen Plan unterscheiden?

Was mich ein bisschen irritiert bei dieser Bande, ist: Sie haben alles gut geplant, aber sie haben diesen jungen Hitzkopf Antoine (Denis Manuel) dabei, der sich auch schon im Vorfeld kaum beherrschen kann. So jemand ist doch eine wandelnde Gefährdung, warum sortiert man den nicht rechtzeitig aus und sucht sich jemanden mit guten Nerven? Es ist aber natürlich eine Filmkonvention. Die Zuschauer identifizieren die Sollbruchstelle und sagen hinterher: “Wusste ich doch, dass es wegen dem schiefgeht.” Das ist mir manchmal zu einfach. Wirklich brilliant fände ich: Der Nervöse wächst im Ernstfall über sich selbst hinaus und bewährt sich, und einer der “alten Hasen” dagegen macht sich in die Hosen. Übrigens traue ich Melville eine solche Differenziertheit durchaus zu. (Um noch ein letztes Mal auf HEAT zurückzukommen: Meine Lieblingsfigur dort war Waingro, der unberechenbare Querschläger, genau so eine Sollbruchstelle, aber außergewöhnlich intensiv verkörpert von Kevin Gage.)

Jetzt gibt es auch – ein Bisschen zumindest – Filmmusik.

Woah, was für ein toller Blick über die Landschaft, ideal für einen Heckenschützenhinterhalt. Je weiter sie nach links gehen, desto spektakulärer wird der Ausblick, ganz links stehen sie über einem Wolkenmeer. Ganz großes Kino!

Gu ist nervös und hat schweißfeuchte Hände. Ich ahnte es. Auch er ist eine schwaches Glied in der Kette. Fein, dass Lino Ventura das mitmacht und nicht darauf besteht, der harte Kerl zu sein. John Wayne hat man nie feuchthändig gesehen, selbst in seinem zerbrechlichen allerletzten Film THE SHOOTIST (1976) nicht. Ganz sicher bin ich mir da aber nicht, es ist lange her, dass ich den zuletzt geschaut habe. Mit THE SHOOTIST werde ich ja meine Western-Serie abschließen, da kommen wir also noch hin, es wird aber wahrscheinlich noch tausend Kapitel dauern.

Schön die Idee mit den Ameisen, die auch gerade emsig ihren kleinen Plänen nachgehen.

Die Nahaufnahme des vorderen Motorradpolizisten funktioniert technisch nicht wirklich, sie wackelt einfach viel zu sehr. Es wird besser nach dem Zurückzoomen. Beim hinteren Motorradpolizisten ist auch die Nahaufnahme besser, weil aus dem wohl ruhigeren Lastwagen gefilmt.

Der Doppelmord an den Polizisten sieht seltsam aus, weil diese auf die Schüsse gar nicht zu reagieren scheinen. Als seien es fahrende Puppen. Ich frage mich auch wirklich, warum die Bande nicht zuerst auf den hinteren Polizisten schießt. Das würde im Konvoi erst einmal noch unbemerkt bleiben. Den vorderen zuerst zu erschießen gibt doch dem Lastwagenfahrer mehr Zeit zu reagieren, anzuhalten, zu wenden, sonstwas zu tun.

Der Junge versagt aber nicht. Und auch Gu nicht, der kassiert sogar noch einen Zeugen ein. Hinterher loben sie sich gegenseitig. Das Zerwürfnis kann allerdings immer noch folgen, der Zaster ist noch nicht verteilt.

Wieder so ein merkwürdiges Geräusch, diesmal das schrille Klingeln auf dem Provinzbahnhof, das überhaupt nicht aufgeklärt wird. Ich dachte, da herrscht schon Alarm oder sowas.

In der neuen Synchro heißt “Francis der Krummbeinige” plötzlich “Francis Le Brincal” oder “Brencal”. Hätte man drauf achten können. Ein echter Widerspruch ist es aber nicht, mal den Originalnamen zu benutzen und mal die Übersetzung.

Mich erinnern Paul Meurisses (Commissaire Blot) Kopfbewegungen beim Monologisieren manchmal an die Augsburger Puppenkiste. Er wackelt auch so seitlich ins Leere schauend mit dem Kopf, sehr einzigartig, außer Marionetten macht das eigentlich niemand. Fehlt nur noch, dass er so abwechselnd die Arme hebt und beim Gehen die Knie hochnimmt.

Seltsam, dass nun schon zum zweiten Mal in diesem Film, wenn auch in gänzlich anderem Zusammenhang, das Wort “Fakir” erwähnt wird. Kommt sofort auf meine Rebus-Liste. Der Baum. Weiße Hemden. Fakir. Also arbre, chemises blanches, fakir. Bislang A, C, B, F. Fast der Anfang des Alphabets, aber lückenhaft und durcheinander.

Jetzt vergeht viel Zeit. Mit Nichtstun. Und dann, ganz plötzlich, wird Gu entführt. Und zwar von komplett neuen Leuten, die für “Nevada, den Engel” arbeiten. Ich staune: Da taucht nach über hundert Minuten einfach mal eben eine neue Fraktion auf, die sich um den Platinraub betrogen sieht! Der Verhandlungsführer dieser neuen Fraktion ist ein junger Typ, der George Raft sehr ähnlich sieht. Jean Négroni heißt der Darsteller. Seine war übrigens die Erzählerstimme in einem der berühmtesten Kurzfilme aller Zeiten, LA JETEE/AM RANDE DES ROLLFELDS (1962) von Chris Marker, dem Vorbild von Terry Gilliams TWELVE MONKEYS (1995).

So, und jetzt bin auch ich komplett reingelegt worden. Von wegen neue Fraktion! Das waren Männer von Commissaire Blot, die Gu dadurch unter Druck und zum Plaudern gebracht, und alles auf Tonband aufgenommen haben! Das habe ich überhaupt nicht kommen sehen, ich habe wirklich an weitere Gangster geglaubt, auch, weil deren Argumentation plausibel war. Und weil der Typ halt wie George Raft aussah. Chapeau Blot, Chapeau Melville!

Verblüfft bin ich dennoch, dass die Polizei wusste, wo Gu sich aufhält. Bislang dachte ich die ganze Zeit, sie suchen ihn. Stattdessen haben sie ihn und benutzen ihn, um die ganze Bande auszuhebeln. Genau dies wird aber als nächstes erklärt: Ein Gefängnisbeamter auf Urlaub hat Gu auf der Straße erkannt und sofort die Polizei verständigt. Der für uns Zuschauer nicht zu sehende Kommissar Zufall also. Und Blot, der schlaue Hund, macht dann nicht einfach einen Zugriff, wie es ein deutscher Polizeibeamter machen würde, sondern entwickelt einen Plan, um die ganze Bande hoppsnehmen zu können.

Gu steht jetzt plötzlich superdämlich da: Als Verräter an seinen “Kollegen”, und dann auch noch fest in den Händen der Polizei und Zielscheibe ihres Spotts. Man knirscht geradezu mit ihm mit den Zähnen.

Interessanter Schnitt. “Gebt ihm mal was zu trinken, er hat ganz trockene Lippen.” Schnitt. Paul ist mit Wasser bekleckert und erschöpft. Wasserfolter. Wie in CARTOUCHE (1962), siehe Kapitel 4.

Versucht Gu sich bei seinem scheiternden Fluchtversuch selbst den Schädel an einem Eisenschrank einzurennen? Wahrscheinlich.

Gu ist also erst einmal aus dem Spiel. Wir gehen elegant über zu Orloff. Der trifft sich erst mit Manouche, dann mit Jo Ricci. Ausführlich sehen wir, wie er eine Wohnung präpariert, sodass er mit erhobenen Händen über seinem Kopf eine Waffe greifen kann.

Der alte Schuhputzer ist kein Filmstatist, das ist ein Original.

Antoine ist nicht dumm, er checkt die Wohnung nach versteckten Waffen. Das sind Szenen, deren Ausführlichkeit man heutzutage so nur noch in Fernsehserien zu sehen bekommt. BREAKING BAD ist (zu recht) hochgerühmt für dieses ganz eigene Timing, das in einem Krimi doch immer hochspannend ist. Es ist nicht spannend, einem Schriftsteller beim Auf-und-ab-Gehen in der Wohnung zuzusehen. Aber Leuten, die sich zu einer Konfrontation verabredet haben? Immer.

Cool: Antoine glaube Orloff überlistet zu haben, doch Orloff hat noch ein Ass im Ärmel. Die von ihm platzierte Kanone war wohl nur ein Trick.

Da liegt Gu im Krankenhausbett. Ein Häufchen Elend, durch Verbände zusammengehalten.

Die Krankenschwester ist das genaue Gegenteil vom Schuhputzer. Nein, nicht nur jung und schön, sondern sie ist keine Krankenschwester, und ich nehme ihr sogar nicht mal in der Rolle ab, dass sie eine Krankenschwester ist, denn sie geht und sieht aus wie ein Model, und agiert wie ein Pornosternchen, das für eine halbe Minute Krankenschwester spielen soll, bevor der Sex endlich losgeht.

Gu wäre nicht Gu, wenn er nicht genau diese eine halbe Minute, bevor der Sex endlich losgeht, zum Ausbruch nutzen würde. Und ich komme mir mehr und mehr wie ein Begriffsstutziger vor: Sein Zerschneiden der Hände und Anrennen gegen den Stahlschrank sollten bewirken, dass er in eine Krankenstation verlegt wird. Von dort aus kann man nämlich leichter türmen als aus der U-Haftzelle.

Ich finde interessant, dass Gu eher auf den örtlichen Inspektor Fardiano wütend ist als auf Blot, der doch die Fäden gezogen hat. Gu scheint Blot zu respektieren, Fardiano ist für ihn nur ein opportunistischer Wadenbeißer und Absahner. Und Folterer.

Gu kidnappt nun Fardiano und zwingt ihn, Dementis in sein Notizbuch zu schreiben. Was die wert sind, weiß ich nicht, es ist doch klar, dass die mit einer Pistole an der Backe verfasst wurden. Ein echtes Dementi würde ein Inspektor auf einer Schreibmaschine tippen und in dreifacher Ausfertigung auf dem Dienstweg einreichen.

Gu nennt dem Inspektor die Namen seiner “Kollegen”, es ist klar, dass das sein Todesurteil ist. Dann legt er ihn um, seine übliche Vorgehensweise: im fahrenden Wagen (oder aus einem fahrenden Wagen heraus). Gerecht kann man das nicht nennen, Fardiano hat ihm gar nicht viel angetan. Gu ist ein finsterer Killer, und wird immer finsterer.

Ein Kinoplakat an der Wand. LA CASE DE L’ONCLE TOM ist natürlich ONKEL TOMS HÜTTE, und zwar die Version von 1965 von Géza von Radványi. Michaela May spielt da als Kind mit, die kann nun stolz darauf sein, sozusagen über Bande in einem Melville-Klassiker aufgetaucht zu sein.

Jetzt begegnen sich Gu und Orloff zum ersten Mal. Sie sind alte Freunde, vielleicht aus dem Krieg? Das erklärt jedenfalls Orloffs Einsatz für Gu die ganze Zeit über.

Dass Antoine wieder dieselbe Wohnung inspiziert, ist schon fast komisch. Die Kamera blendet aber ab und bleibt diesmal nicht so ausführlich.

Der letzte Blick zwischen Gu und Manouche, die mir jetzt etwas zu passiv bleibt. Die ganze Zeit war sie eine Kämpferin, nun könnte sie sich mehr in die Waagschale werfen, um Gus Leben zu retten. Aber wahrscheinlich begreift sie, dass es enden muss. Gu zieht eine Blutspur hinter sich her, die auch wirklich keine schöne Zukunft mehr ermöglicht.

Showdown im selben Zimmer, in dem es vorhin schon um Orloff ging. Genau wie in FRENCH CONNECTION wird auch hier Marcel Bozzuffi von hinten erschossen. Gleichzeitig eröffnet Antoine das Feuer. Gu erschießt aber den ganz reglos dasitzenden vierten im Bunde, Pascal. Die Choreographie ist hektisch und verwirrend, in ihrer Chaotik aber realistisch. Gus Gesicht ist im Liegen (zufällig?) durch seinen Mantelkragen mund- und nasenverdeckt wie das eines Banditen im Wilden Westen.

Er kommt nicht mehr hoch, vielleicht in den Rücken getroffen, beingelähmt. Bitter.

Blot ist unnachahmlich. Man meldet ihm die Schießerei: “Im dritten Stock!”, und er befiehlt sofort weiter: “Nur bis zum zweiten Stock hochgehen!” Um seine Männer vor Dumm- und Überstürztheiten zu schützen.

Letzte Schießerei im Treppenhaus. Auch Blots direkter Untergebener bewährt sich und verwundet den verschanzten Gu tödlich. Blot nimmt den sterbenden Gu in die Arme, was mir fast zu sehr ein Zugeständnis an den bärbeißigen Charme Lino Venturas zu sein scheint. Gu ist ein zweifacher, eiskalter Polizistenmörder und hat eigentlich von einem Polizisten kein Mitgefühl zu erwarten.

Gus letztes Wort ist “Manouche”. Mir fehlt für solches Machotum immer ein bisschen das Verständnis. Er hätte mit ihr leben können, anstatt ohne sie zu sterben.

Blot berichtet Manouche hart, Gu hätte nichts mehr gesagt. Um keine falsche Romantik aufkommen zu lassen, keinen Totenkult. Eigentlich richtig so. Dann spielt er aber noch Fardianos Dementis der Presse zu. Doch Totenkult? Nein. Er macht das, weil Fardiano Wasserfolter praktiziert hat, und Blot das nicht gutheißt.

Das letzte Wort des Rebus steht links in verschiedenen Schreibweisen an der Wand des Hauseingangs, durch den Blot im allerletzten Bild tritt: “Evelyne”. Ein Wort mit E fehlte noch im bisherigen A,B,C und F. Das Wort mit D habe ich aber übersehen, weil ich kein muttersprachlicher Franzose bin. Vielleicht findet es jemand anderes, die oder der von Anfang an weiß, was sie oder er suchen muss, irgendwo im Film.

DER ZWEITE ATEM hat mich mehrmals an der Nase herumgeführt, alle Achtung, dabei bin ich doch nun schon wirklich ein aufmerksamer Hinschauer. Der Plot ist toll, die Figuren superb. Er hätte aber noch stärker sein können, wenn die Platin-Überfallszene in der Mitte so brillant inszeniert worden wäre wie die abstrakte Gefängnisflucht zu Beginn. Der Überfall war zwar stark in der Annäherung, jedoch eher schwach in der Durchführung. Und ich vergleiche hier nicht mit heutigen Standards, sondern wir schreiben 1966, da hat es LOHN DER ANGST bereits vor dreizehn Jahren gegeben, es gibt David Lean, es gibt Kurosawa, es gab vor drei Jahren THE GREAT ESCAPE/GESPRENGTE KETTEN, und seit Neuestem sogar einen jungen Wilden namens Sergio Leone. Da kann man sich nicht darauf herausreden, dass exakt getaktete Action noch nicht geht. Es gibt sie schon.

Darüberhinaus möchte ich aber eine Fernsehserie sehen mit Commissaire Blot als Hauptfigur! 140 Folgen bitte! Mathieu Amalric böte sich an als Hauptdarsteller, er sieht Paul Meurisse ein ganz kleines Bisschen ähnlich. Chabrols sarkastisch-höhnischer Inspektor Lavardin ging ebenfalls in diese Richtung, und brachte es nach zwei Kinofilmen 1985 und 1986 tatsächlich 1988 – 1990 auf eine kleine Serie von vier 90minütigen Fernsehfilmen. Auch Léo Malets Romanfigur, der Privatdetektiv Nestor Burma, hat so etwas Komödiantisches, bei dem beschweren sich seine Gesprächspartner manchmal, dass sie keinen einzigen Satz aus ihm herausbekommen, der keine Übertreibung oder Verdrehung ist. Von diesen drei Figuren ist Blot jedoch die härteste und präziseste.