In der sehr unterhaltsamen Dokumentation HITCHCOCK – TRUFFAUT (2015) musste ich einmal mehr in meinem Leben über etwas den Kopf schütteln, was der Regisseur und Filmkundler Peter Bogdanovich dort mit seiner typisch bierernsten Miene behauptet, nämlich: dass das Ins-Kino-Gehen zum ersten Mal bei PSYCHO (1960) gefährlich gewesen sei.
Das ist natürlich ein hübsches Kompliment für PSYCHO, der unter allen Meisterwerken Hitchcocks neben MARNIE (1964) und vielleicht noch SPELLBOUND (1945) auch mein persönlicher Favorit ist, aber in erster Linie ist es eine Aufwertung, die Bogdanovich an sich selbst vornimmt, denn er war bei der Kinopremiere von PSYCHO dabei und will natürlich genau das aufzeigen: Er selbst als Dreh- und Angelpunkt der Filmgeschichte.
Mir fielen spontan zwei Gegenbeispiele ein, die schon vor PSYCHO richtig gefährliches Kino waren, und Filmkundigeren als mir mögen noch dutzende weiterer Beispiele einfallen.
Die beiden, die mir spontan in den Sinn kamen, sind DAS CABINET DES DR. CALIGARI von 1920 (in diesem Jahr, in dem Der Filmbetrachter startet, also genau 100 Jahre alt), in dem den Zuschauern jeglicher Boden unter den Füßen weggezogen wird, was ist Traum?, was ist Wahn?, was ist Wirklichkeit?, wer ist der Mörder, aber ist der Mörder ein Mörder oder der, der ihn lenkt?, wem können wir noch trauen?, was für eine bizarre Welt ist dies überhaupt?, sodass man eigentlich nur noch zutiefst verunsichert, regelrecht taumelnd aus dem Kino kommen konnte, sowie SHICHININ NO SAMURAI/DIE SIEBEN SAMURAI von 1954, der die Zuschauer viel mehr als PSYCHO durch Mitleid hindurchzwingt, man mag diese Samurai, man identifiziert sich mit ihnen, und dann mutet der Film einem in einer dreieinhalbstündigen Tour de Force zu, dass diese Identifikationsfiguren einer Angriffswelle nach der nächsten ausgesetzt werden, wir sehen ihnen beim Kämpfen zu, wir sehen ihnen beim Überleben zu, wir sehen ihnen aber auch beim Sterben zu, wir sind hinterher schweißgebadet, sind mit viel mehr unterschiedlichen Emotionen konfrontiert worden als in PSYCHO, in dem wir lediglich Schocks zu überstehen haben, mit den SAMURAI aber haben wir gelitten und gelacht, haben mit Liebenden gebangt und waren vor Verzweifelten erschrocken, wir wurden bis zum Zerreißen gespannt und sind wie ein Pfeil zwischen die Hufe galoppierender Pferde geschossen worden, am Ende hinterfragen wir den Sinn von allem, sind erschöpft und bereichert, gleichzeitig unglücklich und glücklich, der Film hat uns in jedem denkbaren Wortsinne mitgenommen. Dass man hinterher nicht mehr ganz derselbe ist – auch das ist eine Gefahr, der gute Filme uns aussetzen können.
Und was ist mit Bunuels UN CHIEN ANDALOU (1929) und Dreyers VAMPYR (1932), die beide ausgeklügelte Aneinanderreihungen von Verunsicherungsmomenten darstellen?
Vielleicht ist Bogdanovichs Perspektive immer nur auf amerikanische Filme beschränkt, und deshalb wirkt er so oft ungenau, wenn er über Filmgeschichte an sich spricht. Er kultiviert den müden Blick von jemandem, der alles gesehen hat, und alles weiß, aber selbst wenn ihm nur alles Amerikanische vertraut wäre, müssten ihm William Castles Geisterbahnstrategien und auch die 3-D-Horrorfilme der 50er Jahre durchaus ein Begriff sein, sicherlich harmlose Spielereien, aber Kino kann ohnehin nur auf zwei Arten „gefährlich“ werden: Entweder stirbt man (wie es einem William Castle versprach) vor Schreck im Kinositz, oder man geht zutiefst verstört nach Hause und leidet lebenslang an Alpträumen, und das haben Bunuel und Wiene und Murnau und die Regisseure von L’INFERNO (1911) und auch Bergman und sicherlich auch noch weitere bereits vor PSYCHO betrieben.
Erstes Addendum:
In der 2017er-Dokumentation 78/52 – DIE LETZTEN GEHEIMNISSE VON PSYCHO wiederholt Bogdanovich seine Behauptung noch einmal. Diesmal wird ihm immerhin insofern widersprochen, dass auf die Zugeinfahrt bei den Brüdern Lumière verwiesen wird, die die Menschen in Massenpanik aus dem Kino trieb, weil sie Angst hatten, von dem Zug überfahren zu werden. Das ist aber noch Kino als Jahrmarktsattraktion, nicht als ausgefeilter Film.
Mir sind aber inzwischen noch zwei weitere Beispiele in den Sinn gekommen.
Der wahnwitzige japanische Irrenhaus-Film KUROTTA IPPEJI/A PAGE OF MADNESS von 1926 bietet keine Figur an, mit der man sich identifizieren könnte, ohne depressiv zu werden oder bis ins Mark zu erschrecken, und legt es besonders zu Beginn geradezu darauf an, Epilepsie auszulösen mit seinen wilden Schnitten und rotierenden Spiralen.
Und wie sicher, wohl und ungefährdet mag man sich 1932 im Kino gefühlt haben, als man FREAKS sah? Ein Film, bei dem sogar die Grenzen zwischen „das ist nur gespielt“ und „das ist echt“ aufgehoben sind, die ein Hitchcock niemals überschritten hätte.
Zweites Addendum:
Mittlerweile ist mir aufgefallen, dass die bahnbrechende Struktur von PSYCHO mit der eliminierten Heldin gar nicht so neuartig ist, sondern exakt dem Verlauf von NOSFERATU (1922) und seiner beiden Nachfolger als Verfilmungen desselben Romans DRACULA (1931) und HORROR OF DRACULA (1958) (siehe Kapitel 12) entspricht. Am Anfang denkt man bei diesen Filmen ja auch, der auf das Schloss reisende Makler sei die Hauptfigur, bis er dann einfach nur zum Opfer wird und es seinem Umfeld obliegt, den Vampir zur Strecke zu bringen. (Hierbei ist erwähnenswert, dass besagten Makler in diesen drei Filmen jeweils ein anderes Schicksal erwartet: In NOSFERATU wird er zum Siechen, in DRACULA zu Draculas Gehilfen (weil hier die Romanfiguren Harker und Renfield zusammengeschmolzen wurden), in HORROR OF DRACULA stirbt er einfach nur wie Marion Crane in PSYCHO. In Werner Herzogs NOSFERATU-Remake von 1979 wiederum wird er dann sogar zum Überträger – im aktuellen Sprachgebrauch: super spreader – der Vampirseuche.)
Neu an PSYCHO ist allerdings auf jeden Fall, dass Schlossherr und Vampir zuerst nicht ein und dieselbe Person zu sein scheinen, weil man noch nicht wissen kann, dass Norman seine Mutter nur verkörpert.