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Starter Pack: Kapitel 12: Hammer und Pflock – Der Hammer-Vampir-Zyklus 1 von 16: HORROR OF DRACULA/DRACULA (1958)

Insgesamt gibt es sechzehn Vampirfilme der Hammer-Studios: sieben davon sind Dracula-Szenarien mit Christopher Lee (einen anderen Dracula als Christopher Lee hat es in diesem Studio nicht gegeben, wohingegen genau einmal ein anderer Dr. Frankenstein als Peter Cushing ausprobiert wurde), ein Film gehört durch Peter Cushing als Van Helsing zum erweiterten Dracula-Mythos, enthält aber keinen Dracula, drei weitere bilden die Karnstein-Trilogie und fünf Filme sind Einzelgänger, wobei einer von jenen aufgrund seiner Hauptdarstellerin Ingrid Pitt in die Nähe der Karnstein-Trilogie gerückt werden kann.

Diese sechzehn Filme und ihre wechselseitigen Bezüge in chronologischer Abfolge zu betrachten ist hier mein Ziel.

Schon die Titelmusik von James Bernard ist hochinteressant. Das Leitmotiv besteht aus drei Tönen, sodass man den Namen „Dra-cu-la“ dazu singen könnte, aber es wäre wahrlich kein fröhliches Liedchen, das man da zum Besten gäbe. Unheildräuender, ja fatalistischer geht es kaum.

Weshalb während der Titelsequenz ein Wappen-Adler im Bild ist, erschließt sich mir nicht ganz. Es sollte wohl einfach ein unheimliches Wesen sein, aber ein Drachen wäre für „Dracula“ natürlich passender gewesen als ein Adler, und eine Fledermaus erst recht. Vielleicht soll der Adler ja eine Art Drachenfledermaus darstellen.

Die Kutsche, die Jonathan Harker zum Schloss Dracula bringt, ist offensichtlich eine Schweizer Kutsche, man beachte das weiße Kreuz auf rotem Grund an der Seite. Dracula ist demnach bei Hammer Schweizer. Das mutet sehr ulkig und willkürlich an, entspringt aber einer guten alten Tradition: Frankenstein hielt sich ebenfalls (laut Mary Shelleys Roman) in den Schweizer Alpen auf, und für Engländer wie Amerikaner ist alles Deutschsprachige gleichermaßen gotisch, sodass man auch den anderen großen Horrorstar guten Gewissens nach dort verpflanzen kann. (Wenn man mal darüber nachdenkt, klingen „Dracula“ und „Ricola“ erstaunlich ähnlich – wer hat’s erfunden?)

In der englischen Originalfassung wird ein in der Nähe befindliches Dorf namens „Klausenburg“ erwähnt, das allerdings in Siebenbürgen, also doch Rumänien, liegt, und unter dem Namen Cluj-Napoca Rumäniens zweitgrößte Stadt ist. Wahrscheinlich war die Kutsche also nur ein Leihstück, oder Jonathan Harker ist mit ihr aus der Schweiz nach Rumänien gefahren.

Dracula hat eine sehr schöne Handschrift, fast wie ein Schriftenfont. Nur die willkürlich wirkenden Abstände zwischen den Worten deuten auf einen unausgeglichenen Charakter hin.

Das Motto von Schloss Dracula lautet „Fidelis et mortem“, was so viel heißt wie „treu und Tod“, und somit sehr seltsames Latein ist. Wahrscheinlich ist eher „Fidelis ad mortem“ gemeint, treu bis in den Tod, was gut zu Draculas zu Lebzeiten feldherrenhaftem Gebaren passen würde. (Ein unterhaltsamer, weiterführender Blogartikel von Penelope Goodman über Draculas fehlerhaftes Latein lässt sich finden unter https://weavingsandunpickings.wordpress.com/2014/01/25/fidelis-et-mortem/, obwohl dort leider der Denkfehler gemacht wird, Dracula hätte sein Schloss erst nach seiner Untotwerdung errichtet, was eher unwahrscheinlich ist. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass es sich um das Motto einer noch lebendigen Familie handelt.)

Harker ist Bibliothekar, nicht Makler wie im Roman. Draculas erster Auftritt ist sehr gentlemanly, er ist sich aber nicht zu fein, Harker den Koffer nach oben zu tragen (was für einen Grafen wirklich ziemlich außergewöhnlich ist). Er spricht auch ganz normal, was sich in den weiteren Hammer-Filmen zugunsten einer größeren Tier- oder Dämonenhaftigkeit ändern wird. Man gewinnt den Eindruck, Dracula ist bei sich zuhause mehr Mensch als auswärts. Dass er mit blutroten und weißen anstatt mit schwarzen und weißen Figuren Schach spielt, ist ein neckisches Detail des Set-Designs.

Aha: Harker gibt sich nur als Bibliothekar aus! In Wirklichkeit ist er gekommen, um Dracula zu vernichten. Das ist eine gravierende Abweichung vom Buch. Wahrscheinlich wollte man bei Hammer einen draufsetzen auf die auch schon aus Tod Brownings Verfilmung von 1931 und sogar aus Murnaus NOSFERATU allzu bekannte Rolle Harkers als Opferlamm. Dieser Harker, obwohl er tölpelhafter und dümmlicher wirkt als seine Entsprechungen aus früheren Filmen, soll also ein knallharter Agent sein. Na, mal sehen.

Und schwupps, schon baut er Mist. Denn wenn er weiß, dass Dracula eine Schreckensherrschaft („reign of terror“) ausübt, weshalb ist er dann gegenüber Draculas Braut nicht argwöhnischer? Weiß er um Vampirismus, oder hält er Dracula nur für einen seine Untergebenen knechtenden Gutsbesitzer? Wenn man nichts über Vampirismus weiß, muss man die Geschichte der Braut rein sexuell verstehen (sinngemäß: „Er hält mich gefangen und Sie wissen nicht, was für schreckliche Dinge dieser Mann tut!“), und Dracula für einen genießerischen Sadisten halten.

Aber dann verliert der Count seine Contenance, und sämtliche Masken fallen. Harker ringt hilflos mit ihm, hoffnungslos unterlegen, man fragt sich wirklich, was er ursprünglich gegen ihn zu tun beabsichtigte.

Okay, Harker weiß über Vampirismus Bescheid. Er weiß, wie es um ihn bestellt ist. Er hat sogar ein Pfählungs-Ausrüstungs-Set für den aufstrebenden Vampirjäger dabei. Mir schleierhaft, weshalb er vorher so arglos war und im Grunde genommen jetzt schon alles vermasselt hat. Immerhin bricht er auf, um Dracula im Sarg anzugreifen. (Ich frage mich, welcher mutige Mensch stets ein frisches Blümchen zu der Marienstatuette vor Schloss Dracula bringt.) Aber schon wieder macht Harker alles falsch. Er hat den hilflosen Dracula und dessen ebenso hilflose Gespielin vor sich. Wen pfählt er zuerst? Die hilflose Gespielin! Wie dumm kann man denn sein? Der Fisch stinkt doch vom Kopf her! Das dauert natürlich so lange, bis es dunkel ist. Auch das eine grandiose Idee von Harker. „Ich gehe zehn Sekunden vor Sonnenuntergang in Draculas Gruft, hmja, das erscheint mir klug.“ Ebenso grandios wie: „Bevor ich Dracula vernichte, muss ich ihm unbedingt noch meine Verlobte vorstellen.“ Vorhang für einen Vampirjäger, dessen Tollpatschigkeit und Unfähigkeit wahrscheinlich Roman Polanski 1967 zu THE FEARLESS VAMPIRE KILLERS/TANZ DER VAMPIRE inspirierte. (Harker darf danach nur noch einmal auftauchen, und dabei sogar als Vampir eher unvorteilhaft und trottelig aussehen.)

Dracula geht aber ebenfalls seltsam vor in dieser Szene. Er verlässt erst die Gruft, um dann von draußen wieder reinzukommen. Warum? Was hat er draußen gemacht? Sich das Blut aus den Mundwinkeln gewischt? Oder sich schnell die Hände gewaschen vorm Abendbrot?

Mir tun die Greisinnen leid, die in Hammer-Filmen immer für das herhalten müssen, was aus schönen Frauen wird, wenn der Fluch gebrochen ist. Hier und z. B. ebenfalls in Hammers SHE (1965). „Du legst dich jetzt da hin, damit der junge Mann sich in Grausen von dir abwenden kann.“

In der 23. Minute des Films: Auftritt der perfekt verkörperten Kompetenz – Peter Cushing als Van Helsing. Wir sind jetzt in Klausenburg, in der Schenke sehen wir Schilder für „Bischofbräu“ und „Rotwein“ (beides ebenjene deutschen Worte). Für mich wirkt das entweder wieder schweizerisch oder wie – das ergibt Sinn – von Siebenbürger Sachsen bevölkertes Rumänien. Wenn es aber das rumänische Klausenburg ist, bleibt rätselhaft, warum es immer als „Dorf“ bezeichnet wird, denn Klausenburg war die Hauptstadt des Großfürstentums Siebenbürgen.

Dracula – ein echter Romantiker: Von allen Frauen, die die Welt ihm zu bieten hat, muss es die eine sein, die Harker ihm gezeigt, und die Harker noch nicht besessen hat – ist vor Van Helsing bei den Holmwoods eingetroffen und webt dort bereits sein finsteres Netz. Die Szene, in der Lucy mit lüstern-verschlagenem Gesichtsausdruck ihrem nächtlichen Liebhaber das Fenster weit öffnet, ist dermaßen sexuell eindeutig, dass man kaum glauben kann, sich noch in den prüden 1950ern zu befinden. Sogar die Musik ist schwellend-pumpend, als wären wir hier in Tinto Brass‘ CALIGULA.

Interessant, dass ein Kruzifix in Vampirfilmen immer definiert wird als ein Symbol, welches die Macht des Guten über das Böse repräsentiert. Dabei stellt ein Kruzifix doch genau genommen den schmerzhaften Tod Christi dar, also das Ans-Kreuz-Geschlagenwerden des fleischgewordenen Gottes durch die vernagelten Menschen. Dieses Symbol könnte also durchaus auch als Niederlage des Guten interpretiert werden. (Bei Polanski wird es dann verlacht, aber nur, weil der betreffende Vampir kein Christ, sondern jüdischen Glaubens ist.)

Mir gefällt übrigens die Sprache Van Helsings: „Be guided by me, I beg you“ ist ein sehr feines, geradezu lyrisches Englisch, vorgetragen mit sanfter Stimme und festem Blick. Cushing ist als Van Helsing konkurrenzlos, obwohl schon so viele diese Rolle interpretiert haben, sogar später Sir Laurence Olivier.

Interessant ist, wie Lucy die Argumente Draculas „übernommen“ hat. Harker – der immerhin ihr Verlobter war – ist für sie einfach nur tot, und Van Helsings Reise, um Harker zu helfen, war nutzlos.

Kurios, dass Van Helsing nicht nachts an ihrem Bett Wache hält. Dies scheint der Schicklichkeit geschuldet, aber auch im 19. Jahrhundert – in dem der Film wie Stokers Roman spielt – wurden Ärzte nachts an die Betten kranker Frauen gerufen und blieben dort, wenn Gefahr in Verzug war, und das ist hier doch wohl eindeutig der Fall.

Von einer winzigen Rattenfänger-Melodie geleitet, geht das kleine Mädchen ganz allein in den Wald. Plötzlich eine Großaufnahme der vampirisch-bizarren Lucy, charakterisiert durch die beiden einzigen blutroten Herbstblätter des ganzen Wäldchens. Regisseur Terence Fisher versteht es meisterhaft, Atmosphäre zu erzeugen, und in dieser Atmosphäre dann ganz sublime, winzige Schocks zu setzen, die wie das Kribbeln einer Gänsehaut sind.

Der Gang der vampirischen Lucy ist großartig. Sie geht sehr hochaufgerichtet, mit ballerinahaften Schritten, einen oder beide Arme wie tastend von sich gestreckt, als wäre sie blind. Tatsächlich blickt sie sehr starr umher, wendet immer den Kopf, anstatt nur die Augen zu bewegen. Sie ist jetzt eine Fledermaus, aber auf einem ihr noch unvertrauten Terrain.

Die Pfählung Lucys, ihre Schreie, ihr verzerrtes Gesicht sind ausgesprochen grausig. Dazu nur ein wenig Blut, aber dennoch kaum auszuhalten. Man beachte, wie das Zwitschern der Morgenvögel draußen betont wird, bevor Van Helsing beginnt, und wie hart seine Hammerschläge jegliches Naturgeräusch unterbinden.

Später wird „die Grenze von Ingstadt“ erwähnt, über die Draculas Sarg gekommen sein muss. Ingstadt? Das klingt mir doch wieder sehr nach einer Verballhornung jenes Ingolstadt, in dem Viktor Frankenstein in Mary Shelleys Roman studiert hat. Dies wie auch die Schweizer Alpen verbinden Hammers Dracula fast mehr mit „Frankenstein“ als mit Bram Stokers „Dracula“-Roman.

Die Deutschbezüge werden immer kurioser: Die Adresse „Frederickstrasse“ in „Karlstadt“ spielt eine wichtige Rolle, ein Bestatter namens „J. Marx“ (immerhin nicht „K. Marx“, aber er ist quasi die Mischung aus Karl Marx und Josef Engels) wohnt dort, sämtliche Figuren sprechen diese Straße allerdings „Fridrigstrasse“ aus, als handelte es sich um die Berliner Friedrichstraße. Wir sind in Karlstadt also nun im Spessart, vielleicht verhöre ich mich aber auch, und wir sind in „Karstadt“, was in diesem Falle angemessen stünde für: großer Gemischtwarenladen.

In der Frederickstraße wird wieder Terence Fishers visuelles Gespür deutlich: Mina Holmwood steht in einem grünen Mantel mit goldenem Pelzkragen vor einem gelblichen Bereich des ansonsten rötlichbraunen oder blauen Hintergrunds. Diese gedeckten Farben stehen wie in einer impressionistischen Malerei flächig nebeneinander, vermischen sich jedoch harmonisch zu einem Eindruck pittoresker Nächtlichkeit.

Die nächste sexuelle Eindeutigkeit: Mina kehrt zurück von ihrem „Rendezvous“ mit dem transsylvanischen Grafen, das Lächeln einer durch und durch befriedigten Frau im Gesicht, vor Hochmut und einer gewissen Ausgelassenheit sprühend. „I feel perfectly well“, sagt sie auch, auf die besorgten Nachfragen ihres faden Gatten hin.

Dracula spricht tatsächlich kein einziges Wort mehr, nachdem er für Jonathan Harker den kultivierten Gastgeber und Kofferträger vortäuschte. Es ist faszinierend zu beobachten, wie er bei den Frauen nicht nur lüsternen Gehorsam, sondern auch Furcht auslöst, aufgrund seiner (und das ist wahrscheinlich durchaus auch sexuell zu verstehen) Größe.

Die minutenlange Ausführlichkeit der Bluttransfusion ist bemerkenswert. Es ist dies der wissenschaftlich-medizinische Versuch, gegen Draculas Einfluss anzukämpfen. Dieser Versuch ist in der Realität alles, was einem zur Verfügung steht, denn es gibt in unserer Wirklichkeit kein durch einen Dracula personifiziertes AIDS, kein personifiziertes Ebola, keinen personifizierten Blutkrebs, kein personifiziertes Corona-Virus, das man aufspüren und vernichten könnte. Die Figur Dracula ist in dieser Hinsicht beinahe eine tröstende Metapher, sein drastisches Vergehen eine erfüllte Wunschphantasie.

Hübsches Detail zum Ende: Dracula stirbt in genau dem Raum, in dem die Bücher stehen, die Jonathan Harker als Bibliothekar auflisten sollte.

Und noch ein Detail: Draculas Ring – der in der Fortsetzung DRACULA: PRINCE OF DARKNESS 1966 eine wichtige Rolle spielen wird – bleibt im astrologischen Symbol „Wassermann“ liegen, dem doppelten Wellenschlag. Gegen fließendes Wasser ist Dracula (siehe ebenjene Fortsetzung) ebenfalls allergisch.

Nun habe ich viel gespottet über Jonathan Harkers Unvermögen und die ständige Deutschverwursterei, aber dies zerstört den Film nicht im Mindesten. Von allen Dracula-Verfilmungen, die ich gesehen habe – und sämtliche wichtigen sind dabei – halte ich diese – vielleicht mit Ausnahme von Murnaus NOSFERATU – für die gelungenste, geschmackvollste, ästhetischste und auch wirkungsvollste. NOSFERATU hatte den scheußlichsten Vampir, Bela Lugosi ist heute nur noch schwerlich ernst zu nehmen, Coppolas Version krankt an ihrer eitlen Mätzchenhaftigkeit. HORROR OF DRACULA von 1958 jedoch hat den besten Van Helsing, den sehr eindrücklichen Christopher Lee, die unverschämtesten erotischen Subtexte, und mit Terence Fisher Hammers besten Mann, dessen beständiges Understatement nicht verhehlen kann, dass er mit seinen sorgfältigen Bildkompositionen, seinen Farben, seinen Lichtsetzungen edle Gemälde des Grauens anfertigte, die (im Gegensatz zu Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray) ausgesprochen würdevoll altern.

Das kostenlose Kapitel 9: JIU MING/KOMA (2004)

KOMA ist ein relativ unbekannt gebliebener Hongkong-Thriller des Regisseurs Law Chi-Leung, der mich nachhaltig beeindruckt hat. Nicht nur mit den herausragenden Leistungen der beiden Hauptdarstellerinnen Kar Yan Lam alias Karena Lam und Angelica Lee alias Lee Sinje, sowie exquisiter Kameraarbeit, sondern vor allem mit seiner geradezu schwindelerregenden Fülle von Plottwists, die allesamt Sinn ergeben. Das Faszinierendste daran war für mich, dass ein Film, der eine eigentlich recht krude und grausige Handlung aufweist (es geht genau genommen um die Niere einer Dialysepatientin, und verschiedene Möglichkeiten von legalen wie illegalen Transplantationen), im Grunde von der Verwickeltheit von Zuneigungen handeln kann.

Nichts an diesem Film ist einfach. Eine Dreieckskonstellation, bei der die beiden Rivalinnen sich anfangs hassen, sich sogar durch Psychoterror zu vernichten suchen, dann sich einander annähern, beinahe esoterisch miteinander verschmelzen, einander beistehen, Freundinnen werden, sich dann wieder entzweien, sich versöhnen, sich erneut entzweien bis zum Kampf auf Leben und Tod, um dann wiederum in tragische Selbstaufopferung zu münden. „Abstoßung“ ist hier ein Schlüsselwort – was für transplantierte Organe gilt, mag auch für die Beziehungen zwischen Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten gelten.

Der Film findet nie gesehene Auflösungen für Szenen, die man bereits woanders gesehen zu haben glaubt. Die Psychopathin-geht-mit-einer-Axt-auf-die-Jagd-Sequenz mündet darin, dass sie sich in Plastikplanen verfängt und erschöpft in die Transparenz atmend wie erstickend das Bewusstsein verliert. Gewalt bricht ganz abrupt aus und verkehrt sich dann wieder in Fürsorglichkeit. Brillant die Szene in dem Restaurant, wo die Nierenkranke ihre Lebensfrustration an Rührei und Teller auslässt, um sich dann noch – halbherzig den Konventionen folgend – zu entschuldigen. Wie sie sich zu mager fühlt, um sich vor ihrem Freund auszuziehen. Wie sie immer wieder ihren Mundgeruch überprüft und darunter leidet, dass sie das Gefühl hat, schlecht zu riechen. Wie der Genuss in den Augen der Liebeshungrigen in Enttäuschung umschlägt, als der untreue Mann sie im dirty talk des Liebesspiels ein „Miststück“ nennt. Wie aus solchen Bezeichnungen Selbstbilder abgeleitet werden. KOMA handelt viel mehr von solchen inneren Dramatiken, als von seinem vorgeblichen, zwischen Gegenwart und Vergangenheit verschachtelten Thriller- und Schockmomente-Plot.

Interessant auch, weshalb der Film eigentlich (für den internationalen Markt) KOMA heißt, denn lediglich eine Nebenfigur liegt in diesem Film im Koma, aus dem sie übrigens niemals erwacht. Der Produzent erklärt das im Making of: Der Film heißt KOMA, weil er von Hilfe handelt, die einer hilflosen Person gegen ihren Willen zuteil wird. Das ist faszinierend komplex gedacht.

Würde Hollywood so denken, müsste IRON MAN statt IRON MAN „Eierschale“ heißen, der STAR WARS-Zyklus nicht KRIEG DER STERNE, sondern „Das mit Lichtgeschwindigkeit auf der Stelle Treten“, DER EXORZIST „Die Vielfalt von Treppen“ und DER PATE II „Das Boot auf dem See“.

Das kostenlose Kapitel 8: Der Mann, der zuviel wusste – Hitchcock (2 und) 3: THE LODGER – A STORY OF THE LONDON FOG/ DER MIETER – EINE GESCHICHTE AUS DEM LONDONER NEBEL (1927)

Hitchcocks eigentlich zweite Regiearbeit THE MOUNTAIN EAGLE (1926) ist leider verschollen, nur ein paar Standfotos sind erhalten geblieben, unter diesen ein sehr grotesk wirkendes Würgerbild. Interessant wäre der Film sicherlich schon alleine dadurch, dass Fritz-Lang-Veteran Bernhard Goetzke eine der Hauptrollen spielt, aber Hitchcock selbst bezeichnete seinen dritten Film THE LODGER als den „ersten richtigen Hitchcock-Film“, insofern ist der Verlust von THE MOUNTAIN EAGLE vielleicht verschmerzbar.

THE LODGER ist perfekt komponiert, szenenweise eindeutig von Leo Perutz‘ Roman „Zwischen neun und neun“ beeinflusst.

Warum sieht man in Filmen eigentlich so selten Lichtreflexe von vorüberfahrenden Autos in Wohnungen? Entweder, weil die Wohnungsszenen in Studios gefilmt werden, und es dort gar keine vorbeifahrenden Autos gibt, oder, wenn die Wohnungen echt sind, weil sämtliches Licht in ihnen kontrolliert und gesetzt wurde, sodass eben solche ungeplanten Reflexe nicht entstehen können. Ich denke also, dass Hitchcock die Lichtreflexe in der Wohnung künstlich erzeugt hat. Was ein ganz erstaunlicher Aufwand wäre, nur, um eine bestimmte visuelle Atmosphäre zu erzeugen – aber das passt zu einem Regisseur, der vorher als Art Director gearbeitet hat, und der einen Glasboden verwendet, um in diesem Stummfilm Schritte wenn schon nicht hörbar, dann eben sichtbar zu machen.

Was ist das überhaupt für eine seltsame Wohnung, die der Lodger da bezieht? Mindestens eines der Wandgemälde ist eindeutig sadomasochistischer Natur. Was wollen die Vermieter ihren Mietern dadurch zu verstehen geben? „Quälen von Frauen ist bei uns willkommen, mit unserer Tochter machen wir das auch so.“ Hoffentlich nicht. Jedenfalls kein Wunder, dass man diese Bilder dann zur Wand dreht.

Aus heutiger Perspektive betrachtet wirkt der Polizist mit seinem fast schwarzen Lippenstift irgendwie pervers (auch in seiner Ruppigkeit im Umgang mit dem Mädchen), und Ivor Novello viel zu hübsch, um ein Mörder sein zu können, aber das war seinerzeit anders. Gustav Diessl als Jack the Ripper in DIE BÜCHSE DER PANDORA (1929) war ebenfalls sehr attraktiv, Conrad Veidt in DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920) bewegte sich zwar skurril, hatte aber ebenfalls ein eindrucksvolles Antlitz. Mörder durften schön sein, das verlieh dem Ermordetwerden einen morbiden Reiz, als wäre eine Lustmord nicht nur etwas, bei dem der Mörder, sondern auch das Opfer Lust empfindet.

Der Lodger ist allerdings, obwohl unschuldig, schon auch ein merkwürdiger Bursche. Warum grinst er diabolisch, wenn er sich Butter aufs Brot schmiert? Und warum geht er dem Polizisten wie ein Würger an die Gurgel, anstatt sich einfach festnehmen zu lassen, bis erwiesen wurde, dass das erste Mordopfer tatsächlich seine Schwester war? Er ist hübsch, und – wie sich am Ende herausstellt – auch reich und womöglich adelig, aber ob das Mädchen bei ihm wirklich in guten Händen ist, dafür würde ich meine eigene nicht ins Feuer legen.

Hitchcock jedenfalls (der sich auch eine recht gewagte Entkleidungs- und Badeszene wieder nicht versagt hat) hebt sich eine letzte Anzüglichkeit für die Schlussminute auf: „Heute Nacht blonde Locken“, blinkt die den Film auch eingeleitet habende Reklame durch das Fenster, vor dem die beiden Baldvermählten sich küssen, und diesmal ist damit weder ein Mord noch ein Varieté gemeint.

Ein Rätsel, das THE LODGER überhaupt nicht auflöst, ist, warum der Mörder sich selbst als „Avenger“ bezeichnet. Wen rächt er, und warum signiert er seine Untaten? Vielleicht ist dazu in der Romanvorlage von Marie Belloc Lowndes mehr zu erfahren, Hitchcock jedenfalls lässt das völlig offen. Jedenfalls scheinen die Opfer nicht erschossen zu werden, weshalb die in der Tasche des Lodgers gefundene Pistole ihn eigentlich nicht wirklich belasten dürfte.

Hitchcock ist hier schon vollständig bei sich: Wie die meisten seiner Filme wirkt THE LODGER realistisch, ist es aber überhaupt nicht. Alles ist vollendet künstlich: Die sich auf nichts gründende Empörung der Menge am Ende, das „Spurenlesen“ des Polizisten, der in einem Fußabdruck Details des Films rekapituliert, der erste Auftritt des Lodgers, später das seine Augen zusätzlich betonende Muster des Fensterkreuzes auf seinem Gesicht, der wunderbare Glasfußboden, die überdeutlich blonden Wandgemälde, und selbst das geisterhaft huschende Licht in den Zimmern.



Addendum:

Ich habe jetzt endlich den 1913 erschienenen Roman von Marie Belloc Lowndes gelesen. Auf Deutsch heißt der (im Diogenes Verlag) „Jack the Ripper“, was nicht wirklich Sinn ergibt, denn die Geschichte ist zwar klar an den Ripper-Fall angelehnt, aber der Mörder signiert mit „The Avenger/Der Rächer“, ist also ein anderer, und der Name „Jack the Ripper“ wird – im Gegensatz zu den Namen „Jekyll“ und „Hyde“ – nirgendwo im Buch erwähnt.

Erwähnenswert:

  • Ein Untermieter kann sich schlechterdings anonym einmieten. Hitchcock hat auf den Namen dieses spezifischen Mieters aber schlauerweise verzichtet, weil der etwas albern ist: Im Buch nennt er sich „Sleuth“, was für „Wahrheit“, „Spürhund“ oder „Schnüffler“ steht, und viel zu sehr ein nom de guerre ist, der auf seine eigentliche Tätigkeit verweist.
  • Um ihn als Sonderling zu charakterisieren, hat er einen Ekel vor Fleisch, ist also Vegetarier. Ich halte ihn allerdings besonders als Vegetarier für einen Sonderling, denn er lässt sich durchaus mal zu einem „Hühnchen“ und zu „Fisch“ breitschlagen. Auf mich wirkt er eher wie jemand, der allenfalls Schweinefleisch ablehnt, ein heimlicher Moslem also vielleicht. Womöglich hat er seinen Namen gar nicht mit „Mister Sleuth“, sondern mit „Mister Suez“ angegeben, und lispelt. Er neigt nämlich zum haspelnden Sprechen.
  • Es gibt eine ausführliche Szene im „Schwarzen Museum“ von Scotland Yard, das die Autorin offensichtlich besucht hat.
  • Die Schilderung der Tochter Daisy als hübscher Person, die ihrem Vater gerne aus der Zeitung vorliest, aber bei den Worten „Theorie“ und „Nomade“ stockt, weil sie die offensichtlich noch nie gehört hat, hätte ich bereits ehrabschneidend gefunden, wenn ein Mann den Roman geschrieben hätte, aber ich finde es geradezu unverständlich, dass die Tochter einer Feministin diesen Roman geschrieben hat. Warum hat sie aus Daisy denn keine kluge, emanzipierte junge Frau gemacht, sondern eine, die nur dadurch glänzt, in einem geblümten Kleid besonders gut auszusehen?
  • Der Roman ist stellenweise von fast bestürzender Naivität. Wir erfahren so gut wie nichts über die Morde, den Tathergang, die Opfer, auch aus der Presse nicht. Wir können uns eigentlich also gar kein richtiges Bild machen. In einem Schrank kippt ein Gläschen roter Tinte um, die Hauptfigur (die Vermieterin) erschrickt, weil sie das mit Blut verwechselt. Auf mich erweckt das den Eindruck, weder diese Vermieterin noch die Autorin hätten jemals echtes Blut zu sehen bekommen. Auch wird immer wieder ein Klopfen an der Haustür als „Cliffhanger“ an das Ende eines Kapitels gestellt. Einmal war es der neue Untermieter, der klopfte, einmal der Postbote, und einmal ein Freund der Familie. Spannung, die gar keine ist, und die restlos verpufft. Und wenn einer sich mit einem Schnurrbart verkleidet hat, wird er prompt überhaupt nicht erkannt.
  • Dafür gibt es eine hochinteressante psychologische Dimension, die im Film fehlt. Die Hauptfigur des Romans ist die alte Mrs. Bunting, die Vermieterin. Sie ist anfangs die Einzige, die den Lodger verdächtigt, der „Rächer“ zu sein, weil sie die Einzige ist, die mitbekommt, dass er sich nachts immer aus dem Haus schleicht. Dennoch beschließt sie an einer Stelle, ihn zu schützen, selbst wenn er der Mörder sein sollte. Sie hat dabei eine Gemengelage von Motiven: Erstens ist sie Mister Sleuth dankbar, dass er sie und ihren Mann durch seine Mietzahlungen im wahrsten Sinne des Wortes vorm Hungertuch gerettet hat und weiterhin rettet. Zweitens scheint sie sich ein kleines Bisschen in den 40jährigen Mieter verknallt zu haben. Das wird nie deutlich ausgesprochen, aber sie fühlt sich eigentümlich wohl in seiner Gegenwart und achtet sehr eifersüchtig darauf, dass sie allein ihn bedient, niemand sonst. Drittens gibt es eine Stelle in dem Buch, in der Mrs. Bunting denkt, Frauen sind eher Individuen, und nicht so sehr Staatsbürger (anders als die Männer). Sie sind also nicht so verantwortlich für das Staatswohl, sondern eher nur fürs heimische Wohl. Das ist eine bizarre Perspektive, die fast schon feministisch sein könnte, wenn sie nicht aber auch etwas Häuslich-Devotes und etwas von Aus-allem-Komplizierten-halte-ich-mich-raus hätte.
  • Die Mordserie des „Rächers“ ist umfangreicher als die Jack the Rippers. Er begeht allein neun Morde in London, davor aber auch schon jeweils zwei in Leipzig (!) und Liverpool. Bei Jack the Ripper waren es insgesamt „nur“ fünf. („Der Rächer“ scheint es auf Städte abgesehen zu haben, die mit einem L beginnen. Weshalb? Weil der Nachname der Autorin auch mit einem L beginnt?)
  • Mister Sleuth verbringt den ganzen Tag mit manischem Bibelstudium, was ihn in meinen Augen zu einem religiösen Fanatiker macht. Er liest wirklich nichts außer Bibel und Bibelkonkordanz, nicht einmal Zeitungen (was ich sehr seltsam finde angesichts seines Anliegens). Er kommentiert die Bibel mit seiner roten Tinte und zitiert Passagen über „Rache“, was ihn natürlich besonders verdächtig macht, der „Rächer“ zu sein, und er sagt laut Bibelpassagen auf. Er spinnt nicht nur ein bisschen.
  • Im Film weggelassen wurde eine lange Passage, in der Mrs. Bunting sich zu einer Zeugenbefragung im Fall „Rächer“ einschleicht. Dort treten Figuren auf mit seltsam sprechenden Namen wie „Mr. Cannot“ und „Dr. Gaunt“, die dem Roman zusammen mit „Mr. Sleuth“ beinahe etwas Surrealistisches oder sogar Symbolistisches verleihen. Später gibt es noch einen Franzosen namens „Barberoux“, was an „barbe rouge“, also„Rotbart“, erinnert.
  • In den Zeitungen wird ein berühmter Detektiv erwähnt, der aus dem Ruhestand zurückkehrt, um sich in die Ermittlungen einzuschalten. 1913 wird es wohl keinen Leser gegeben haben, der dabei nicht an Sherlock Holmes dachte. Holmes war 1903 nach seinem „Tod“ in den Reichenbachfällen von Arthur Conan Doyle aus dem „Ruhestand“ zurückgeholt worden (und ermittelte weiter bis 1927). Bei dem während der Zeugenbefragung auftauchenden berühmten Schriftsteller könnte es sich um Conan Doyle handeln, muss aber nicht.
  • Das „Finale“ ereignet sich am Eingang zur „Gruselkammer“ von Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett. Es ist aber viel weniger dramatisch als bei Hitchcock, verplätschert eher.
  • Das Ende des Romans ist geradezu schockierend für diejenigen, die nur Hitchcocks Verfilmung kennen (Achtung, Spoileralarm!): Nicht nur ist Mister Sleuth tatsächlich der Mörder, sondern er entkommt sogar! Warum er sich „der Rächer“ nannte, wofür er sich rächte, erfahren wir nie. Auch sein Vermieterpärchen, das bis zuletzt eine schützende Hand über ihn hält, wird nicht belangt. Wie kommt dieses Mitgefühl der Autorin mit einem Massenmörder á là Jack the Ripper und seinen spießigen Herbergsleuten zustande? Weil er nur „betrunkene“ Frauen umbringt, und keine „anständigen“? Äußert sich da ein tiefes Verständnis der konservativen Klasse für ein „Großreinemachen“? Mister Sleuth ist ja ein „Gentleman“, also kein „verkommenes Subjekt“ aus der Hafengegend, dann kann er nachts ruhig Frauen aufschlitzen gehen. Hauptsache, im Haus bleibt alles schön sauber (Mrs. Buntings Reinlichkeit und Putzfimmel werden mehrmals betont). Das und einige im Roman verstreute abfällige Bemerkungen über „Ausländer“ und „Radikale“ finde ich allerdings tatsächlich richtig gruselig.
  • Ein Rätsel bleibt: Die englischsprachige Wikipedia schreibt in ihrer Inhaltsangabe, Mister Sleuth werde fünf Tage später gefunden, ertrunken in einem Fluss. In meiner deutschsprachigen Ausgabe fehlt dafür jegliches Anzeichen, nur sein Messer und die Gummisohlenschuhe werden gefunden, aber nicht an einem Flussufer, sondern im Regent’s Park. Irrt sich die englische Wikipedia? Oder weicht die deutsche Übersetzung tatsächlich so stark vom Original ab? Aber warum? Warum den Regent’s Park hinzudichten? Bei einem Roman, dessen erste Verfilmung das Ende regelrecht ins Gegenteil verkehrt hat, scheint alles denk- und nichts lösbar.   

Das kostenlose Kapitel 7: Mindestens fünfzehn Filme von Sion Sono: 1. HEYA/THE ROOM (1992)

Was ich von Sion Sono halten soll, ist mir überhaupt noch nicht klar. Bislang habe ich erst drei Filme von ihm gesehen, den ersten (SUICIDE CIRCLE, auch: SUICIDE CLUB, von 2001) fand ich großartig, den zweiten (STRANGE CIRCUS, 2005) maniriert, angestrengt, weil um das Verbergen seiner eigenen Hohlheit bemüht, und der dritte (LOVE EXPOSURE, 2008) hat mich dermaßen gelangweilt, dass ich es bislang noch gar nicht geschafft habe, ihn mir in voller Länge (fast vier Stunden) anzusehen.

Zeit also für eine eingehendere Betrachtung, denn Sion Sono ist längst zum Kritikerliebling und Festivalmatador avanciert (was noch nicht unbedingt für ihn spricht, schon mehrmals sind Cineasten Blendgranaten auf den Leim gegangen), hat sich diesen Ruf aber teilweise schon wieder verspielt durch Filme (wie z.B. TOKYO TRIBE, 2014), die einfach zu sehr dem Genre-Pulp verhaftet sind, um vom typischen Festivalisten noch beklatscht werden zu können. Genau das macht ihn für mich dann doch wieder interessant. Es könnte sich bei ihm um einen verkopfteren/unentspannteren Takashi Miike handeln (dessen qualitativ explosiver Output im Gegenwartskino allerdings unerreicht bleiben dürfte, eine so ausführlich wie nur mögliche Miike-Serie im Filmbetrachter wird folgen, ab Kapitel 60.)

Genug der Vorrede, hinein in THE ROOM, den vierten der neun Langfilme, die Sono bereits vor seinem internationalen Durchbruch mit SUICIDE CIRCLE gedreht hat, die aber allesamt außerhalb Asiens äußerst schwierig aufzutreiben sind.

Alles an THE ROOM dauert viel zu lange. Farbe beim Trocknen zuzusehen (jener berühmte, durch Arthur Penns NIGHT MOVES/DIE HEISSE SPUR 1975 kolportierte Vergleich mit den Filmen Eric Rohmers) wäre Dynamit dagegen, deshalb hat der Film auch keine Farben, er ist schwarzweiß. Sion Sono zwingt uns anfangs, das langsame Wandern von Wolken am linken Bildrand als das Spannendste wahrzunehmen, das sich ereignet. Er zwingt uns, nach etwas Ereignisähnlichem geradezu zu fahnden. Später, wenn wir uns an diesen Rhythmus gewöhnt haben, überfordert er uns geradezu mit Stadtansichten aus einer fahrenden Bahn.

Nichtsdestotrotz handelt es sich um einen Krimi, um einen Yakuzafilm. „Battles without Horror and Velocity“ sozusagen. (Eine Serie über die BATTLES WITHOUT HONOR AND HUMANITY-Yakuzafilm-Reihe wird es auch noch geben im Filmbetrachter, aber erst ab Kapitel 180.)

Mir gefällt die Art und Weise, wie HEYA/THE ROOM Sinn ergibt. Der Mieter gibt eine unfassbar lange Beschreibung, was er von einem Zimmer erwartet. Anschließend fahren wir unfassbar weit, um einen Raum zu finden, der diesen Anforderungen gerecht werden kann. Der ist es nicht. Also fahren wir weiter. Stoisch. Der ist es aber auch nicht. Eine andere Art von Fahrt schließt sich an. Und immer so weiter. Auf der Tonspur ist von Anfang an mehr los als in den Bildern. Dennoch ist es gar nicht unspannend. Road Movies haben immer die Sensation wechselnder Orte zu bieten. Alles flüstert. Der Mieter spielt ein japanisches Bilboquet namens Kendama, das mir so in dieser Art vor diesem Film gar nicht geläufig war, es funktioniert zweiseitig, ich habe dagegen ein klassisches französisches zuhause, eins, mit dem man mit dem Zapfen das Loch treffen muss, wie es auch in Maupassants Roman „Bel Ami“ von den Angestellten der Zeitung gespielt wird. Oh, schweife ich etwa ab? HEYA/THE ROOM bewirkt dies durchaus.

Bei der Szene mit dem Sterbenden in der Sonne erwartet man, dass der Killer zur Pistole zurückgehen wird und mit ihr den Sterbenden erschießt. So hätten es Tarantino oder Takeshi Kitano gemacht, und man hätte es in seiner Langsamkeit als lakonischen Humor gewertet. Bei Sono bleibt die Pistole vergessen. Es fällt auch (noch) kein Schuss. Stattdessen wird geraucht.

Während der Autofahrt macht man sich Gedanken. Werden sie im Kreis fahren? Wozu stehen all die Menschen an, die da anstehen? Was mag es da geben?

Eine geblümte Glastür mutet wie ein Spezialeffekt an, ist aber keiner.

„Your eyes resemble the room I’m looking for“ (ich habe den Film mit englischen Untertiteln gesehen) ist ein grandioser Satz. Plötzlich ist dieser langsamste aller Yakuzafilme beinahe so etwas wie ein Liebesfilm. Beinahe.

Das Ende ist erstaunlich pointiert. Deshalb verrate ich es nicht.

Dennoch dürfte es schwierig werden, die heutige Smartphonejugend zum Konsum solcher Werke zu bewegen.

Aber manchmal denke ich mir: Was, wenn sie eines Tages den ganzen audiovisuell genormten Spektakelkram mit Superheldenteams oder Dystopien besiegenden Jugendlichen oder niedlichen, singenden Animationsfiguren oder pseudo-mittelalterlichen, langhaarigen Schwertträgern in Grau-, Braun-, und Grüntönen satt bekommen und stattdessen mal etwas vollkommen Anderes wollen? Etwas, dessen Gestik und Mimik und Look sie nicht schon tausendmal in Variationen vorgesetzt bekamen? Dann könnte die Stunde schlagen von sowas wie HEYA/THE ROOM.

Vielleicht aber auch nicht, und stattdessen werden auch die Superheldenteams noch anfangen zu singen.

Das kostenlose Kapitel 6: Blog-danovich

In der sehr unterhaltsamen Dokumentation HITCHCOCK – TRUFFAUT (2015) musste ich einmal mehr in meinem Leben über etwas den Kopf schütteln, was der Regisseur und Filmkundler Peter Bogdanovich dort mit seiner typisch bierernsten Miene behauptet, nämlich: dass das Ins-Kino-Gehen zum ersten Mal bei PSYCHO (1960) gefährlich gewesen sei.

Das ist natürlich ein hübsches Kompliment für PSYCHO, der unter allen Meisterwerken Hitchcocks neben MARNIE (1964) und vielleicht noch SPELLBOUND (1945) auch mein persönlicher Favorit ist, aber in erster Linie ist es eine Aufwertung, die Bogdanovich an sich selbst vornimmt, denn er war bei der Kinopremiere von PSYCHO dabei und will natürlich genau das aufzeigen: Er selbst als Dreh- und Angelpunkt der Filmgeschichte.

Mir fielen spontan zwei Gegenbeispiele ein, die schon vor PSYCHO richtig gefährliches Kino waren, und Filmkundigeren als mir mögen noch dutzende weiterer Beispiele einfallen.

Die beiden, die mir spontan in den Sinn kamen, sind DAS CABINET DES DR. CALIGARI von 1920 (in diesem Jahr, in dem Der Filmbetrachter startet, also genau 100 Jahre alt), in dem den Zuschauern jeglicher Boden unter den Füßen weggezogen wird, was ist Traum?, was ist Wahn?, was ist Wirklichkeit?, wer ist der Mörder, aber ist der Mörder ein Mörder oder der, der ihn lenkt?, wem können wir noch trauen?, was für eine bizarre Welt ist dies überhaupt?, sodass man eigentlich nur noch zutiefst verunsichert, regelrecht taumelnd aus dem Kino kommen konnte, sowie SHICHININ NO SAMURAI/DIE SIEBEN SAMURAI von 1954, der die Zuschauer viel mehr als PSYCHO durch Mitleid hindurchzwingt, man mag diese Samurai, man identifiziert sich mit ihnen, und dann mutet der Film einem in einer dreieinhalbstündigen Tour de Force zu, dass diese Identifikationsfiguren einer Angriffswelle nach der nächsten ausgesetzt werden, wir sehen ihnen beim Kämpfen zu, wir sehen ihnen beim Überleben zu, wir sehen ihnen aber auch beim Sterben zu, wir sind hinterher schweißgebadet, sind mit viel mehr unterschiedlichen Emotionen konfrontiert worden als in PSYCHO, in dem wir lediglich Schocks zu überstehen haben, mit den SAMURAI aber haben wir gelitten und gelacht, haben mit Liebenden gebangt und waren vor Verzweifelten erschrocken, wir wurden bis zum Zerreißen gespannt und sind wie ein Pfeil zwischen die Hufe galoppierender Pferde geschossen worden, am Ende hinterfragen wir den Sinn von allem, sind erschöpft und bereichert, gleichzeitig unglücklich und glücklich, der Film hat uns in jedem denkbaren Wortsinne mitgenommen. Dass man hinterher nicht mehr ganz derselbe ist – auch das ist eine Gefahr, der gute Filme uns aussetzen können.

Und was ist mit Bunuels UN CHIEN ANDALOU (1929) und Dreyers VAMPYR (1932), die beide ausgeklügelte Aneinanderreihungen von Verunsicherungsmomenten darstellen?

Vielleicht ist Bogdanovichs Perspektive immer nur auf amerikanische Filme beschränkt, und deshalb wirkt er so oft ungenau, wenn er über Filmgeschichte an sich spricht. Er kultiviert den müden Blick von jemandem, der alles gesehen hat, und alles weiß, aber selbst wenn ihm nur alles Amerikanische vertraut wäre, müssten ihm William Castles Geisterbahnstrategien und auch die 3-D-Horrorfilme der 50er Jahre durchaus ein Begriff sein, sicherlich harmlose Spielereien, aber Kino kann ohnehin nur auf zwei Arten „gefährlich“ werden: Entweder stirbt man (wie es einem William Castle versprach) vor Schreck im Kinositz, oder man geht zutiefst verstört nach Hause und leidet lebenslang an Alpträumen, und das haben Bunuel und Wiene und Murnau und die Regisseure von L’INFERNO (1911) und auch Bergman und sicherlich auch noch weitere bereits vor PSYCHO betrieben.


Erstes Addendum:

In der 2017er-Dokumentation 78/52 – DIE LETZTEN GEHEIMNISSE VON PSYCHO wiederholt Bogdanovich seine Behauptung noch einmal. Diesmal wird ihm immerhin insofern widersprochen, dass auf die Zugeinfahrt bei den Brüdern Lumière verwiesen wird, die die Menschen in Massenpanik aus dem Kino trieb, weil sie Angst hatten, von dem Zug überfahren zu werden. Das ist aber noch Kino als Jahrmarktsattraktion, nicht als ausgefeilter Film.

Mir sind aber inzwischen noch zwei weitere Beispiele in den Sinn gekommen.

Der wahnwitzige japanische Irrenhaus-Film KUROTTA IPPEJI/A PAGE OF MADNESS von 1926 bietet keine Figur an, mit der man sich identifizieren könnte, ohne depressiv zu werden oder bis ins Mark zu erschrecken, und legt es besonders zu Beginn geradezu darauf an, Epilepsie auszulösen mit seinen wilden Schnitten und rotierenden Spiralen.

Und wie sicher, wohl und ungefährdet mag man sich 1932 im Kino gefühlt haben, als man FREAKS sah? Ein Film, bei dem sogar die Grenzen zwischen „das ist nur gespielt“ und „das ist echt“ aufgehoben sind, die ein Hitchcock niemals überschritten hätte.


Zweites Addendum:

Mittlerweile ist mir aufgefallen, dass die bahnbrechende Struktur von PSYCHO mit der eliminierten Heldin gar nicht so neuartig ist, sondern exakt dem Verlauf von NOSFERATU (1922) und seiner beiden Nachfolger als Verfilmungen desselben Romans DRACULA (1931) und HORROR OF DRACULA (1958) (siehe Kapitel 12) entspricht. Am Anfang denkt man bei diesen Filmen ja auch, der auf das Schloss reisende Makler sei die Hauptfigur, bis er dann einfach nur zum Opfer wird und es seinem Umfeld obliegt, den Vampir zur Strecke zu bringen. (Hierbei ist erwähnenswert, dass besagten Makler in diesen drei Filmen jeweils ein anderes Schicksal erwartet: In NOSFERATU wird er zum Siechen, in DRACULA zu Draculas Gehilfen (weil hier die Romanfiguren Harker und Renfield zusammengeschmolzen wurden), in HORROR OF DRACULA stirbt er einfach nur wie Marion Crane in PSYCHO. In Werner Herzogs NOSFERATU-Remake von 1979 wiederum wird er dann sogar zum Überträger – im aktuellen Sprachgebrauch: super spreader – der Vampirseuche.)

Neu an PSYCHO ist allerdings auf jeden Fall, dass Schlossherr und Vampir zuerst nicht ein und dieselbe Person zu sein scheinen, weil man noch nicht wissen kann, dass Norman seine Mutter nur verkörpert.

Das kostenlose Kapitel 5: Die zehn Filme von Alain Robbe-Grillet: Eins: L‘ IMMORTELLE/DER UNSTERBLICHE (1963)

Ich finde diesen Film, der ein Experiment der Widersprüchlichkeiten, gewollten Anschnittfehler, Paradoxien und Unbeweisbarkeiten zu sein scheint, erstaunlich kohärent. Mann trifft Frau, begehrt Frau, sie entzieht sich halb, halb gibt sie sich hin, sie entschwindet, stirbt oder hat niemals existiert, er sucht sie, er findet sie in anderen, er findet sie selbst, doch nie kann er sich sicher sein. Dies ist die Geschichte jeder Liebe, die nicht ganz und gar konformistisch ist.

Die Frau sagt, sie wohnt in Vifakishlemezjitokayoliedokuz und erklärt sich bereit, dem Mann diese Adresse aufzuschreiben. Sie schreibt in seinen Taschenkalender, dann reißt sie die Seite heraus und wirft sie in den Wald. Als der Mann Wochen später – alle anderen Fährten führten ins Nichts – diesen Zettel sucht, findet er ihn, aber er ist völlig unbeschriftet. Das Datum dieser verwaisten Kalenderseite ist (Verschwörungstheoretiker aufgemerkt) der Dreiundzwanzigste.

Ich frage mich, ob es möglich ist, einen heterosexuell erotischen Film aus der Perspektive eines Mannes zu inszenieren – ohne eine einzige Frau. Robbe-Grillet bringt es fertig, die Atmosphäre dermaßen aufzuladen, dass man kein Fenstergitter mehr sehen kann, ohne dahinter schöne Sklavinnen zu wittern, die den perversen Gelüsten ihrer Herren vollkommen ausgeliefert sind. Man muss kein praktizierender Sadomasochist sein, um sich in Robbe-Grillets Welt zurechtzufinden, aber es hilft, wenn man genügend Fantasie besitzt, sich in Szenarien der lebensbedrohenden Inbesitznahme zumindest einfühlen zu können.

Natürlich ist es angenehm für den Anfänger in diesen Dingen, die Bauchtänzerin bei ihren pelvischen Verrichtungen beobachten zu können, Francoise Brion beim Angezogensein, beim Halbentkleidetsein, beim Gehen, beim Atmen, beim Duften zuzuschauen. Sowie den anderen Frauen, die dann ihren Platz einnehmen, und unsere Sehnsucht ebenfalls tragen wie etwas, das zwar einer anderen auf den Leib geschneidert wurde, das aber immerhin halbwegs passt. Nicht ganz nebenbei bemerkt: „L’Immortelle“ heißt „die Unsterbliche“, nicht „der Unsterbliche“, wie der deutsche Verleihtitel behauptet. „Der Unsterbliche“ ergibt in diesem Film gar keinen Sinn, ich fürchte, die deutschen Verleiher haben ihn nicht verstanden. Es geht ums Ewigweibliche, nicht ums Ewigmännliche.

Nichts Antikes ist in L’IMMORTELLE authentisch. Alles scheint verbilligter Ramsch zu sein. Gleichzeitig ist alles im Verfall begriffen. Paläste sind ausgebrannte Bühnen, Schiffe liegen versunken im Hafen, Moscheen zerbröseln. Es ist beinahe dieselbe Sightseeingtour durch Istanbul, auf die uns auch das im selben Jahr gedrehte zweite James-Bond-Abenteuer FROM RUSSIA WITH LOVE/LIEBESGRÜSSE AUS MOSKAU mitnimmt, aber was dort pittoresk und gefahrvoll aufwühlend ist, ist hier nur noch morbide. Dort ist die männliche Hauptfigur ein viriler Tausendsassa, hier ist er nicht nur schläfrig, sondern geradezu somnambul. Hätte man Bond sehr, sehr viele Downer in den Martini geschüttelt, würde er vielleicht so triefäugig durch die Stadt schlurfen und sich andauernd selbst begegnen wie Robbe-Grillets Protagonist. Aber beide Filme ergänzen einander, auch durch Farbe und Schwarz-Weiß. Zusammen ergeben sie ein kompletteres Bild davon, wie die Unsterblichkeit beschaffen ist.

Übrigens sind phallische Grabsteine eine faszinierende Idee. Als würden die Toten uns Lebenden ein letztes Bedürfnis entgegenrecken. Aber wir erfahren in L‘IMMORTELLE, dass unter diesen Steinen niemand liegt, und dass sie später zum Straßenbau verwendet werden, sodass wir alle auf ihnen herumtrampeln, als könnten wir Begehren nur respektieren, wenn es unser eigenes ist.

Das kostenlose Kapitel 4: Das Ende von CARTOUCHE

Der Mantel-und-Degen-Film CARTOUCHE/CARTOUCHE, DER BANDIT (1962, Regie: Philippe de Broca) betritt in seiner Schlussphase völliges Neuland.

Bis dahin alles wie gehabt: Jean-Paul Belmondo ist – in der bewährten Tradition von Gérard Philipe als FANFAN LE TULIPE/FANFAN, DER HUSAR (1952) – ein frecher Tausendsassa, er prügelt, schwingt und lacht sich durch den Film, trotzt den Obrigkeiten, ergaunert sich ein Vermögen, scheint unbezwingbar. Sogar, dass er seine schöne Geliebte Venus (schmollmündig wie eine dunkle Bardot: Claudia Cardinale) mit anderen Frauen betrügt – was ein altmodischer romantischer Held vor den 1960ern niemals getan hätte – kann man ihm nicht übelnehmen, weil auch Venus es ihm nicht wirklich übelnimmt, sie schmollt dazu und schweigt.

Aber dann passiert etwas Eigentümliches. Einer von Cartouches Kameraden wird gefangen genommen und gefoltert. Selbstverständlich kann er befreit werden und ist sowohl körperlich als auch geistig im Großen und Ganzen hinterher wieder der Alte. Bis auf ein einziges eindrückliches Detail: Seine Haare sind in der kurzen Haft schlohweiß geworden. Den Zuschauer beschleicht der Verdacht, dass ihm während seiner Haft noch Schlimmeres widerfahren ist als die Wasserfolter, deren Zeugen wir wurden, etwas, das sich außerhalb der Zeugenschaft der Kamera ereignete. Die weißen Haare verändern plötzlich alles, denn sie besagen: Das Tun unseres Helden Cartouche zeitigt Konsequenzen, die nicht mehr ausheilen. Normalerweise bedeutet eine Gefangennahme für den Typus des lachenden Abenteurers, sei er nun von Douglas Fairbanks, Errol Flynn oder Burt Lancaster verkörpert, immer nur eines: Er muss halt einen Weg finden, wieder zu entkommen. Diesmal jedoch hat die Gefangennahme etwas eingebracht, das man weiter mit sich herumträgt, dem man nie mehr entwischen kann. Der Film hat plötzlich einen düstereren, verhängnisvolleren Tonfall, die weißen Haare leuchten in ihm wie ein Menetekel.

Folgerichtig ist es als nächstes Cartouche selbst, der gefangen genommen wird. Und wir ahnen: Es wird ihm wirklich an den Kragen gehen, wenn der Befreiungsversuch misslingt. Venus führt diesen Befreiungsversuch an, schmollend überlistet sie die Soldaten, schießt und fechtet ihren untreuen Cartouche frei. Und wird dabei erschossen.

Etwas zerbricht in Cartouche, mit einem noch lauteren Geräusch als nur einem Musketenknall.

Er bahrt die tote Venus in einer Prunkkutsche auf, behängt sie mit allem Schmuck und Kostbarkeiten, denen er in seiner Karriere als Räuberhauptmann habhaft werden konnte, und versenkt die Kutsche mitsamt der schönen Toten in einem See. Er nimmt Abschied von allem, was ihm jemals etwas bedeutet hat.

Nun kommt es zu folgendem denkwürdigem Dialog (zitiert nach der deutschen Synchronfassung):

Freund: „Und was wird jetzt?“

Cartouche: „Jetzt werde ich Rache nehmen.“

Freund: „Und dann?“

Cartouche: „Dann werde ich dort enden, wo ich enden muss.“

Anderer Freund: „Du meinst … beim Henker.“

Cartouche: „Ja. Hoffentlich geht’s schnell.“

Dann reiten die Banditen davon, in einen Untergang mit Ansage, das Wort „Fin“ erscheint auf dem Bildschirm, dramatisch musikuntermalt und mit einer hoffnungsloseren Bedeutung als gewöhnlich.

Der lachende Held hat also aufgehört zu lachen. Aus der Komödie (stellenweise fast Groteske) ist ein Drama geworden, eine Tragödie geradezu. Das nimmt das berühmte Ende von BUTCH CASSIDY & THE SUNDANCE KID/ZWEI BANDITEN (sieben Jahre später) bereits vorweg. Es beeinflusste sicherlich auch die außergewöhnlich vielschichtigen Musketier-Filme, die Richard Lester in den 1970ern drehte, in denen ebenfalls die Komödie stellenweise zur grimmigen Härte gerinnt.

Man stelle sich Douglas Fairbanks‘ Dieb von Bagdad vor, wie er, von Pfeilen durchbohrt, mit seinem fliegenden Teppich abstürzt.

Errol Flynns Robin Hood, dessen Kopf im Schlussbild über den Richtplatz rollt.

Oder den Roten Korsaren Lancaster, mit seinem Schiff versinkend und ertrinkend.

Cartouche macht uns das vor, ohne es explizit im Bild zu zeigen, und antizipiert dadurch jenen anderen charismatischen Rebellenhauptmann Che Guevara, der Cartouche um nur noch fünf Jahre überlebte.

Das kostenlose Kapitel 3: Der Mann, der zuviel wusste – Hitchcock 1: THE PLEASURE GARDEN/ IRRGARTEN DER LEIDENSCHAFT (1925)

Hitchcocks unter anderem in München (und Italien, wo es sehr abenteuerlich wurde, wie Hitchcock erzählt in Truffauts Buch „Wie haben sie das gemacht, Mister Hitchcock?“) gedrehtes Debüt beginnt furios: Die unterschiedlichen Reaktionen der Theaterbesucher sind wunderbar karikaturesk eingefangen, der erste Hitchcocksche Spezialeffekt lässt auch nicht lange auf sich warten: Aus der Unschärfe eines Kurzsichtigen werden durch ein Fernglas in den Fokus gerückte „scharfe“ Beine. Die dargebotenen Tänze sehen etwas läppisch aus, aber Stummfilme im Musikmilieu haben in dieser Hinsicht ohnehin ein Manko.

Der Film wird nach dem dynamischen Beginn sehr melodramatisch und in seiner Vorhersagbarkeit etwas zäh, wobei ich die Wandlung der anfangs sehr garboesken Patsy zur naiven, aufopferungsvollen Unschuld sogar etwas unglaubhaft finde.

Toll jedoch, wie Hitchcock subtil dafür sorgt, dass man ihren Verehrer Levet (dessen Name bei Truffaut ständig falsch geschrieben wird, wie Truffaut auch in der Inhaltsangabe den Mord an der Eingeborenen „verschweigt“) nicht leiden kann. Bei den ersten beiden Kuss-Szenen der zwei wird jeweils der kläffende Hund dazwischengeschnitten, sodass man die Assoziation nicht loswerden kann, Levets Schnauzbart schmeckt nach Hundefell. Und etwas später steht Patsy verloren in einer Gasse, Levet schleicht sich von hinten an sie heran, und spricht sie nicht etwa an, sondern berührt sie fast wie ein Würger an den Schultern, sodass er ihr natürlich einen Heidenschrecken einjagt, den ein umsichtiger Mann leicht hätte vermeiden können.

Im letzten Drittel gibt es einen der eigenartigsten Morde der Filmgeschichte zu bewundern. Die eingeborene, verstoßene Geliebte Levets will nicht mehr leben, sie geht dramatisch ins Wasser, Levet schwimmt ihr hinterher, sie denkt, er will sie retten, aber er ertränkt sie. Das wäre gar nicht mehr nötig gewesen, es ist, als würde man jemanden, der bereits in einen Abgrund stürzt, während des Fallens noch erschießen.

An diesen – im wahrsten Sinne des Wortes – überflüssigen Mord schließt sich Hitchcocks meines Wissens einzige Geisterszene an, durchaus schaurig aufgrund der traurigen Augen der Toten. Die Sequenz danach, in der der rasende Levet mit einem Säbel in der Hand der hilflosen Patsy in ein schmales Gelass nachsteigt, um sie zu töten, ist für die damaligen Zuschauer sicherlich nicht einfach zu ertragen gewesen. Auch wie Levet erschossen wird, ist sehr ungewöhnlich: Der Schuss scheint ihn erst von seinem Wahnsinn zu kurieren, dann erst bemerkt er das Blut aus seinem Körper, bricht zusammen und stirbt. Hier geht Hitchcock schon sehr weit.

Darüberhinaus ist THE PLEASURE GARDEN auffallend sexy. Die beiden hübschen Mädchen, die sich ein Zimmer teilen, entkleiden sich ausführlichst, dauernd werden irgendwelche Strümpfe und Strumpfbänder thematisiert, die Eingeborenengeliebte ist ein sinnlicher Wonneproppen, und selbst die mütterliche Haushälterin hat einen nicht gerade alltäglich voluminösen Busen.

Mord, Morddrohungen, Umnachtung, irregeleitete Liebe und reichlich weibliche Schauwerte im Tänzerinnenmilieu und anderswo – Debütant Hitchcock bietet viel in einer einzigen Stunde, und nährt Hoffnung auf weitere frivole Unterhaltsamkeiten.

Das kostenlose Kapitel 2: Argentoia – 1: L’UCCELLO DALLE PIUME DE CRISTALLO/DAS GEHEIMNIS DER SCHWARZEN HANDSCHUHE (1970)

Kaum zu fassen, dass dies Dario Argentos Debütfilm ist – und der erste Farbfilm seines Kameramanns Vittorio Storaro (der zwei Jahre später den farblich ebenfalls extravaganten DER LETZTE TANGO IN PARIS, aber auch noch Epischeres wie APOCALYPSE NOW (1979) und DER LETZTE KAISER (1987) fotografieren wird) – denn der Film ist geradezu makellos inszeniert. Vergessen wir für einen Moment, dass sich das titelgebende Wundertier (l‘uccello dalle piume de cristallo heißt: der Vogel mit dem Kristallgefieder) als gewöhnlicher Kronenkranich entpuppt, dass die Paarbeziehung (wie meistens bei Argento) aus läppisch-lieblosen Dialogen und dümmlichen Verhaltensweisen besteht – die Bilder, untermauert von einer stellenweise fast an Miles Davis‘ „Bitches Brew“ erinnernden Musik Ennio Morricones, sind eine schiere Wucht.

Der an eine Blutspur gemahnende rote Efeu über einem mehrmals wichtigen Fenster wird im Inneren des Zimmers durch eine rote Jalousie und eine wie ein fetter Blutstropfen zentral auf einem Tisch platzierte Vase aufgegriffen. Die Lederjacke, die der Held die ganze Zeit über trägt, hat exakt dieselbe Farbe wie der Hausflur, den er gegen Ende betritt, um das labyrinthische Rätsel zu lösen. Die schreiend gelbe Jacke des Killers wiederum ist für einen Angehörigen dieser Profession ein völliges Unding – löst sich aber als geschickte Tarnung auf, wenn ein Raum voller Gelbjacken erreicht wird. Wie auch Argentos PROFONDO ROSSO (1975) (siehe Kapitel 269) ist dieser Film ein Film der Orte, die gleichzeitig Seelenlandschaften sind. Der Held, der am Anfang auch akustisch isoliert wie in einem Terrarium zwischen Glaswänden gefangen hilflos ein Blutbad mitansehen muss. Ein Blutbad, das auch ein Bilderrätsel ist, denn eher seinem Unterbewusstsein als seinem Bewusstsein fällt auf, dass mit dem Bild etwas nicht stimmt. Gegen Ende der winzige Bildkader, in dem der Held erscheint, umgeben von riesiger Schwärze, der Größe des Geheimnisses entsprechend, bis das Licht angeht und den Helden wieder an den Anfang des Geschehens zurückführt. Das Kunstobjekt erweist sich als riesige Venusfalle, die auf dem Gefangenen herumtanzende lachende Frau als sadistisch dominante Fetischfurie (interessanterweise darf sie, im Gegensatz zu anderen Mördern in Argento-Filmen, den Film sogar überleben und kommt lediglich in Behandlung.)

Eindrücklich auch Mario Adorfs Auftritt als exzentrischer Maler blutrünstiger, naiver Kunstwerke, der sich jetzt gerade in seiner „mystischen Phase“ befindet. Der Besuch bei ihm bringt den Helden recherchetechnisch überhaupt nicht weiter, bietet aber weitere unangenehme Einblicke in die Verhaltensweisen von Menschen (und enthält einen Hinweis auf Argentos nächsten Film seiner sogenannten „Tier“-Trilogie, die aus Vogel/Katze/Fliegen besteht…)

Das Loch in der Tür, durch das in beide Richtungen gestochen wird.

Der vergebliche Versuch, ein Fenster einzuschlagen, führt dazu, dass noch am nächsten Tag ein Kerzenleuchter mitten im Fenster festhängt.

Selbst die neblige Straße sieht hier – was man in Filmen sehr selten zu sehen bekommt – nach echter Waschküche aus und nicht nur nach Trockeneisnebel aus der Dorfdisco.

Auch ein seltsames Detail: Die Passantin, die sich an einem Leichenfundort in einem Polizeiautoaußenspiegel ausgiebig die Haare kämmt.

Und in Werner Peters‘ Antiquitätenladen ist auf der Tonspur – womöglich Teil der beginnenden Musik – kurz etwas zu hören, das wie der Schrei eines Vogels klingt, und das somit – zusammen mit dem Klang der ominösen „Flüster“-Stimme, die der von Werner Peters ähnelt – in eine falsche Richtung lenkt.

Der Film besteht fast ausschließlich aus starken, für sich selbst bereits werthaltigen Bildern und absonderlichen akustischen Eindrücken, und schafft es dennoch, ein eher ruhiges, sorgsam wirkendes Erzähltempo einzuhalten, ohne von einer Sensation zur nächsten zu hecheln. Hitchcock hätte erstaunlich stolz sein können auf dieses Meisterstück, und laut italienischem Trailer ist er ja immerhin „nervös“ geworden, als er L‘UCCELLO DALLE PIUME DE CRISTALLO sah.

Das kostenlose Kapitel 1: Die ELEPHANT MAN-Trilogie

THE ELEPHANT MAN/DER ELEFANTENMENSCH (1980) endet mit einem Frauengesicht vor einem Sternenhimmel, und die Kamera fliegt in diesen Sternenhimmel hinein, fast wie ein Raumschiff.

David Lynchs nächster Film, DUNE/DER WÜSTENPLANET, vier Jahre später, beginnt mit einem Frauengesicht vor einem Sternenhimmel, das uns erzählt, wie die Menschheitsgeschichte zehntausend Jahre weitergegangen ist.

Wenige Minuten später sehen wir den Elefantenmenschen John Merrick wieder.

Merrick ist inzwischen Navigator eines Raumschiffes, ein grotesker, in einem Gastank treibender Mutant, aber eines der mächtigsten und einflussreichsten Wesen des Universums. Sogar der Imperator kuscht vor seinen Wünschen.

Diese Navigatoren verkörpern die Raumfahrt an sich, die weniger vermittels Hochtechnologie als vielmehr durch Drogen, Raumkrümmung und körperliche Verformung aufrechterhalten wird. (In Frank Herberts Romanfortsetzung „Der Gottkaiser des Wüstenplaneten“ verwandelt sich schließlich sogar der neue Imperator physisch in einen Sandwurm.)

Wir begreifen dadurch, was John Merrick im viktorianischen London eigentlich war: Ein aus der Zeit Gefallener, ein noch unvollendeter/unbewusster Vorbote einer ferneren, phantastischen Zukunft.

Insofern bilden die ersten drei Spielfilme David Lynchs eine deutliche Trilogie.

Im ersten (ERASERHEAD, 1977) wird das Baby geboren und ist einfach nur monströs.

Im zweiten (der mit Geburtsvisionen beginnt), wird das Baby in Monstrosität erwachsen, findet aber immerhin dank Artikulation zu Anhaltspunkten menschlicher Würde.

Im dritten erreicht das Baby seine Erfüllung und ist nicht mehr monströs, sondern mächtig.

Hierin spiegelt sich auch der Werdegang/das Selbstbild des Regisseurs selbst wider, ablesbar an den drei unterschiedlichen, immer höher werdenden Budgets, die man ihm für diese Trilogie zur Verfügung gestellt hat.


P. S.: Dem Schriftsteller Alan Moore verdanke ich die zwei Gedanken, dass man erstens zu Beginn einer ambitionierten Unternehmung (wie das Projekt Der Filmbetrachter eine ist) der indischen Gottheit Ganesha huldigen sollte, weil dies dem Projekt Glück bringt – und dass zweitens der Elephant Man die moderne Inkarnation dieser elefantenköpfigen indischen Gottheit ist.

Hiermit habe ich mich tief vor Ganesha verneigt, und gleichzeitig auch vor der Filmgeschichte, die vom Spätviktorianischen bis ins Raumfahrtzeitalter reicht. Und der ich mich annehmen möchte, wie sie sich meiner angenommen hat, seitdem ich ein ganz kleiner Elefantenmensch war.