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Das kostenlose Kapitel 2: Argentoia – 1: L’UCCELLO DALLE PIUME DE CRISTALLO/DAS GEHEIMNIS DER SCHWARZEN HANDSCHUHE (1970)

Kaum zu fassen, dass dies Dario Argentos Debütfilm ist – und der erste Farbfilm seines Kameramanns Vittorio Storaro (der zwei Jahre später den farblich ebenfalls extravaganten DER LETZTE TANGO IN PARIS, aber auch noch Epischeres wie APOCALYPSE NOW (1979) und DER LETZTE KAISER (1987) fotografieren wird) – denn der Film ist geradezu makellos inszeniert. Vergessen wir für einen Moment, dass sich das titelgebende Wundertier (l‘uccello dalle piume de cristallo heißt: der Vogel mit dem Kristallgefieder) als gewöhnlicher Kronenkranich entpuppt, dass die Paarbeziehung (wie meistens bei Argento) aus läppisch-lieblosen Dialogen und dümmlichen Verhaltensweisen besteht – die Bilder, untermauert von einer stellenweise fast an Miles Davis‘ „Bitches Brew“ erinnernden Musik Ennio Morricones, sind eine schiere Wucht.

Der an eine Blutspur gemahnende rote Efeu über einem mehrmals wichtigen Fenster wird im Inneren des Zimmers durch eine rote Jalousie und eine wie ein fetter Blutstropfen zentral auf einem Tisch platzierte Vase aufgegriffen. Die Lederjacke, die der Held die ganze Zeit über trägt, hat exakt dieselbe Farbe wie der Hausflur, den er gegen Ende betritt, um das labyrinthische Rätsel zu lösen. Die schreiend gelbe Jacke des Killers wiederum ist für einen Angehörigen dieser Profession ein völliges Unding – löst sich aber als geschickte Tarnung auf, wenn ein Raum voller Gelbjacken erreicht wird. Wie auch Argentos PROFONDO ROSSO (1975) (siehe Kapitel 269) ist dieser Film ein Film der Orte, die gleichzeitig Seelenlandschaften sind. Der Held, der am Anfang auch akustisch isoliert wie in einem Terrarium zwischen Glaswänden gefangen hilflos ein Blutbad mitansehen muss. Ein Blutbad, das auch ein Bilderrätsel ist, denn eher seinem Unterbewusstsein als seinem Bewusstsein fällt auf, dass mit dem Bild etwas nicht stimmt. Gegen Ende der winzige Bildkader, in dem der Held erscheint, umgeben von riesiger Schwärze, der Größe des Geheimnisses entsprechend, bis das Licht angeht und den Helden wieder an den Anfang des Geschehens zurückführt. Das Kunstobjekt erweist sich als riesige Venusfalle, die auf dem Gefangenen herumtanzende lachende Frau als sadistisch dominante Fetischfurie (interessanterweise darf sie, im Gegensatz zu anderen Mördern in Argento-Filmen, den Film sogar überleben und kommt lediglich in Behandlung.)

Eindrücklich auch Mario Adorfs Auftritt als exzentrischer Maler blutrünstiger, naiver Kunstwerke, der sich jetzt gerade in seiner „mystischen Phase“ befindet. Der Besuch bei ihm bringt den Helden recherchetechnisch überhaupt nicht weiter, bietet aber weitere unangenehme Einblicke in die Verhaltensweisen von Menschen (und enthält einen Hinweis auf Argentos nächsten Film seiner sogenannten „Tier“-Trilogie, die aus Vogel/Katze/Fliegen besteht…)

Das Loch in der Tür, durch das in beide Richtungen gestochen wird.

Der vergebliche Versuch, ein Fenster einzuschlagen, führt dazu, dass noch am nächsten Tag ein Kerzenleuchter mitten im Fenster festhängt.

Selbst die neblige Straße sieht hier – was man in Filmen sehr selten zu sehen bekommt – nach echter Waschküche aus und nicht nur nach Trockeneisnebel aus der Dorfdisco.

Auch ein seltsames Detail: Die Passantin, die sich an einem Leichenfundort in einem Polizeiautoaußenspiegel ausgiebig die Haare kämmt.

Und in Werner Peters‘ Antiquitätenladen ist auf der Tonspur – womöglich Teil der beginnenden Musik – kurz etwas zu hören, das wie der Schrei eines Vogels klingt, und das somit – zusammen mit dem Klang der ominösen „Flüster“-Stimme, die der von Werner Peters ähnelt – in eine falsche Richtung lenkt.

Der Film besteht fast ausschließlich aus starken, für sich selbst bereits werthaltigen Bildern und absonderlichen akustischen Eindrücken, und schafft es dennoch, ein eher ruhiges, sorgsam wirkendes Erzähltempo einzuhalten, ohne von einer Sensation zur nächsten zu hecheln. Hitchcock hätte erstaunlich stolz sein können auf dieses Meisterstück, und laut italienischem Trailer ist er ja immerhin „nervös“ geworden, als er L‘UCCELLO DALLE PIUME DE CRISTALLO sah.

Das kostenlose Kapitel 1: Die ELEPHANT MAN-Trilogie

THE ELEPHANT MAN/DER ELEFANTENMENSCH (1980) endet mit einem Frauengesicht vor einem Sternenhimmel, und die Kamera fliegt in diesen Sternenhimmel hinein, fast wie ein Raumschiff.

David Lynchs nächster Film, DUNE/DER WÜSTENPLANET, vier Jahre später, beginnt mit einem Frauengesicht vor einem Sternenhimmel, das uns erzählt, wie die Menschheitsgeschichte zehntausend Jahre weitergegangen ist.

Wenige Minuten später sehen wir den Elefantenmenschen John Merrick wieder.

Merrick ist inzwischen Navigator eines Raumschiffes, ein grotesker, in einem Gastank treibender Mutant, aber eines der mächtigsten und einflussreichsten Wesen des Universums. Sogar der Imperator kuscht vor seinen Wünschen.

Diese Navigatoren verkörpern die Raumfahrt an sich, die weniger vermittels Hochtechnologie als vielmehr durch Drogen, Raumkrümmung und körperliche Verformung aufrechterhalten wird. (In Frank Herberts Romanfortsetzung „Der Gottkaiser des Wüstenplaneten“ verwandelt sich schließlich sogar der neue Imperator physisch in einen Sandwurm.)

Wir begreifen dadurch, was John Merrick im viktorianischen London eigentlich war: Ein aus der Zeit Gefallener, ein noch unvollendeter/unbewusster Vorbote einer ferneren, phantastischen Zukunft.

Insofern bilden die ersten drei Spielfilme David Lynchs eine deutliche Trilogie.

Im ersten (ERASERHEAD, 1977) wird das Baby geboren und ist einfach nur monströs.

Im zweiten (der mit Geburtsvisionen beginnt), wird das Baby in Monstrosität erwachsen, findet aber immerhin dank Artikulation zu Anhaltspunkten menschlicher Würde.

Im dritten erreicht das Baby seine Erfüllung und ist nicht mehr monströs, sondern mächtig.

Hierin spiegelt sich auch der Werdegang/das Selbstbild des Regisseurs selbst wider, ablesbar an den drei unterschiedlichen, immer höher werdenden Budgets, die man ihm für diese Trilogie zur Verfügung gestellt hat.


P. S.: Dem Schriftsteller Alan Moore verdanke ich die zwei Gedanken, dass man erstens zu Beginn einer ambitionierten Unternehmung (wie das Projekt Der Filmbetrachter eine ist) der indischen Gottheit Ganesha huldigen sollte, weil dies dem Projekt Glück bringt – und dass zweitens der Elephant Man die moderne Inkarnation dieser elefantenköpfigen indischen Gottheit ist.

Hiermit habe ich mich tief vor Ganesha verneigt, und gleichzeitig auch vor der Filmgeschichte, die vom Spätviktorianischen bis ins Raumfahrtzeitalter reicht. Und der ich mich annehmen möchte, wie sie sich meiner angenommen hat, seitdem ich ein ganz kleiner Elefantenmensch war.